Dienstag, 7. Mai 2019

Tag 4: Doch kein norwegisches „Verona“?



Matthias' Eindrücke von den ersten Proben fürs zweite Semi

Israel Die Wettbüros sind gnadenlos. Kaum sind die ersten Proben für das zweite Halbfinale durch, verliert man ein wenig den Glauben an einen möglichen Sieg von Luca Hänni. Der Schweizer liegt nur noch auf Rang 6, dagegen hat Chingiz nicht nur Luca, sondern auch John Lundvik überholt. Aufstrebend auch Michela Pace aus Malta, die Hatari überrundete und der man gerade die siebtgrößten Siegchancen einräumt.

Waren die Probendurchgänge des Aserbaidschaners und der Malteserin so gut, oder waren die anderen schwächer? Schauen wir mal.

Bei allen drei – Luca, Michela, Chingiz – kommt das Phänomen zum Tragen, das ich vor zwei Tagen schon beschrieben hatte: Sie alle wurden intern gewählt (zumindest die Songs), und so durfte man auf die erste große Performance auf der großen Bühne gespannt sein. Und da hat, man muss es so ehrlich sagen, Chingiz am positivsten überrascht. Wobei: überrascht hat weniger er als die beiden Roboterarme, die auf der Bühne sinnbildlich sein gebrochenes Herz reparieren. Aber Chingiz überzeugte bei „Truth“ auch stimmlich.

Der Aufwärtstrend von Michela wiederum verwundert ein wenig. Die Durchgänge in dem quasi als Musikvideo konzipierten Auftritt funktionierten mal mehr, mal weniger, und Michela wirkte in der knallbunten Kulisse teils etwas hilflos. Aber man kann ja noch weiter üben…
Klar scheint jedenfalls: Den ganz hohen Erwartungen wurde der Schweizer Auftritt nicht völlig gerecht. Dabei sieht das ganze zunächst mal doch ganz ordentlich aus. Und wir sind doch froh, dass Luca sein Outfit inklusive Hut aus dem Musikvideo zuhause gelassen hat (oder holt er das für die Liveshow noch raus? – hoffentlich nicht…)

Neben Luca, Chingiz und Michela bietet das zweite Halbfinale drei weitere Kandidaten auf, die hoch gehandelt werden: John Lundvik, Sergey Lazarev und natürlich der amtierende König der Wettbüros, Duncan Laurence. Beim Schweden hat sich nicht so viel getan im Vergleich zum Melodifestivalen: gleiches schwarzes Outfit, der bekannte Deckenfluter in warmem Licht, dazu die Chorfrauen (jetzt alles in schickeren Kleidern), alle wie gehabt. Aber wozu sollte man das Erfolgskonzept verschlimmbessern? Dass John jetzt bei den Wetten etwas hinter Chingiz liegt, kann ich mir nur mit dem Überraschungsmoment der Aseri-Roboter erklären…

Äußerst gespannt war ich auf die Probe Russlands. Was würde man Pompöses auf die Bühne zaubern, um dem pompösen Lied „Scream“ gerecht zu werden? Ich bin fast ein wenig enttäuscht. Sergey in einem Glaskasten (ähnlich wie Ani Loraks Tänzer 2008), dazu ein neunfacher Sergey (einmal echt plus auf acht LED-Wänden), was z.B. an Iveta 2016 erinnert. Das alles sieht am Bildschirm sicher sehr gut aus – aber wirklich neu erscheint mir das nicht. Irgendwie hatte ich von den ehrgeizigen Russen mehr erwartet.

Und schließlich Duncan. Hier haben die Niederländer einiges (aber nicht alles?) richtig gemacht. Im Gegensatz zu vielen anderen Acts verzichtet man auf das ganze Chi-chi und konzentriert sich komplett auf Lied und Sänger, der am Klavier sitzt, vor einem dunklen Hintergrund mit einer lila Galaxiewolke und eine Art Laserstrahlen. Er singt es gut, aber ist es sinnvoll, drei Minuten hinter dem Piano zu verharren? Seinen Spitzenplatz bei den Buchmachern behält Duncan jedenfalls vorerst.

Geht es nach den Buchmachern, qualifizieren sich außerdem noch Norwegen, Nordmazedonien, Armenien und Dänemark – Albanien hätte knapp das Nachsehen. Deckt sich das mit meinen Probenbeurteilungen?

Nun, bei Tamara Todevska habe ich ehrlich gesagt gemischte Gefühle. Warum sieht man ihre Rücken in mehreren Spiegeln? Das bodenlange Kleid sieht gut aus, aber die Farbe ist Geschmackssache. Ich finde das Grün nicht so geschickt gewählt. Bei Srbuk passt das Oufit mit den hohen Stiefeln und den Hotpants noch ganz gut. Der YouTube-Videoschnipsel von eurovision.tv wird der Performance offenbar nicht gerecht – dort scheint die allein auftretende Armenierin recht verloren auf der großen Bühne zu sein, doch am TV-Bildschirm geht man dieser Gefahr mit vielen Schnitten und viel Feuer aus dem Weg.

Dänemark bleibt sich ähnlich wie Nachbar Schweden treu: Leonora darf wieder auf dem überdimensionalen Stuhl Platz nehmen und mit jetzt vier Begleitern schunkeln. Der kitschige Backdrop passt gut zum süßen Song. Da wundert man sich fast, dass die Wettbüros das nur auf Platz 10 im Semi haben – also klar hinter Norwegen, die doch eher als Wackelkandidat erscheinen sollten. Tatsächlich aber klingen KEiiNO gesanglich deutlich besser als im norwegischen Vorentscheid, und die Optik mjt diesem computeranimierten Flug übers Gebirge sieht ansehnlich aus. Passend eingesetzte Pyrotechnik unterstreicht die Performance. Wird „Spirit in the Sky“ also doch nicht das befürchtete „Verona“ von 2019?

Was liefert hingegen Jonida Maliqi ab? Naja, eine wenig überraschende Bühnenshow. Sie steht halt da in ihrem Kleid, das aus Cleopatras Kleiderschrank geklaut zu sein scheint, und singt ihr Lied runter. Das mag sie ja mit kraftvoller Stimme tun, aber in diesem Halbfinale dürfte das kaum reichen, um am Ende der Show den Namen des eigenen Landes ausgerufen zu hören.

Österreich setzt, ähnlich wie die Niederländer, ganz auf die Künstlerin. Dezent inszeniert mit Leuchtstäben auf dunkler Bühne. Ob das die Zuschauer ergreift oder eher langweilt, wissen wir am Donnerstag kommender Woche. Die Buchmacher zweifeln eher. Ich finde es nett anzuschauen, aber empfinde die 3 Minuten doch als lang. Rumäniens „On a Sunday“ gibt mir als Lied immer noch nichts, aber die Kulisse des Videos hat man ganz geschickt auf die Bühne gebracht. 

Und sonst so? Eine Schnarchnummer aus Lettland, bei der sogar der Schlagzeuger gelangweilt dreinschaut; ein irischer Auftritt, der ein weiterer Beleg dafür ist, warum man LED-Backdrops abschaffen sollte (viel zu bunt und kleinteilig, ein Fall für den Augenarzt); dazu eine Sandmalerin, die wir irgendwie schon mal gesehen haben… wo war das nur??!? 😉; außerdem eine litauische Inszenierung, die quasi John Lundviks Lampe in ganz groß auf den Backdrop zaubert – die man aber trotzdem schon gleich wieder vergessen hat. 

Und dann ist da noch Roko, der immer noch Engelsflügel trägt wie beim kroatischen Vorentscheid, aber jetzt in Gold statt Weiß (ich hoffe für ihn, dass er zum Tragen der Flügel durch Jacques Houdek gezwungen wird und er das nicht von sich aus tut…) Das sieht so albern aus und schadet dem ganzen mehr, als es nützt. Der Bursche kann einem Leid tun. Dabei singt er so schön. Also engelsgleich…. äh… nun…. Aber dazu braucht er trotzdem diesen Trash-Prop nicht. Bitte weglassen!

Fazit: Der derzeitige Trend bei den Buchmachern deckt sich weitgehend mit dem, was ich von den ersten Proben des 2. Halbfinals mitnehme. Norweger, die sich gesteigert haben und zu Recht ihren Platz unter den besten 10 vorerst innehaben; eine Nordmazedonierin, die hoffen darf; eine Albanerin, für die es wohl knapp nicht reichen wird; überraschend starke Proben von Michela und Chingiz – und dazu ein Führungs-Quartett, das an den vergangenen beiden Tagen bewiesen hat, warum es so hoch gehandelt wird. Fortsetzung folgt.