Sonntag, 19. Mai 2019

Eurovision 2019: Das große Abschlussposting



Israel - So schnell sind 14 Tage in der Eurovision-Welt auch schon wieder vorbei. Der 64. Eurovision Song Contest hat heute Nacht, nach einer imposanten Show seinen Sieger gefunden. Für Deutschland lief es erwartungsgemäß nicht so gut, über die Diskrepanzen zwischen Jury- und Televoting haben wir bereits eingehend gesprochen und ein Weltstar, der so viel Promotion im Vorfeld bekommen hat, sollte sich nach dem gestrigen Auftritt vielleicht überlegen, die aktive Karriere an den Nagel zu hängen. So lässt sich der Song Contest in Tel Aviv wohl zusammenfassen.

Beginnen wir vorne. Jon Ola Sand lotste als Tower-Aufsicht Netta Barzilai und ihre Flugbegleiter in Form der 26 Interpreten in die Halle auf dem Expogelände. Die Idee war gut umgesetzt und das israelische Fernsehen KAN hat es auch geschafft, im Laufe der Show alle ehemaligen Sieger einzubauen. Dana International sang, ähnlich wie Nadav Guedj zur Eröffnung im Rahmen der Flaggenparade, Izhar Cohen vergab die israelischen Jurypunkte, Gali Atari stimmte mit ehemaligen Teilnehmern "Hallelujah" an und Netta war sowieso omnipräsent, etwa als pfundige Banane, als sie ihren neuen Song vorstellte.

Die Auftritte der Semifinalisten wichen im Großen und Ganzen nicht von den Engagements am Dienstag und Donnerstag ab. Meinem subjektivem Empfinden nach haben die meisten aber stimmlich noch mal einen Gang zugelegt, so fand ich die Darbietung von Serhat aus San Marino nicht mehr ganz so schräg, wie noch am Dienstag. Mich erstaunt es nach wie vor, dass San Marino im Televoting den zehnten Platz belegt hat. Da die Juroren allerdings die Spaßbremse raushingen ließen, reichte es am Ende nur für den 20. Platz. Dennoch sollte das Ergebnis der sanmarinesischen Delegation Mut machen und es zeigt, auch die Kleinen haben durchaus Chancen.

Der Knoten ist bei einigen Nationen geplatzt. Nach dem sechsten Platz im Vorjahr reichte es für die Tschechische Republik in diesem Jahr auch wieder für einen guten elften Platz. Ich hatte Lake Malawi nicht auf dem Zettel, da bin ich ganz ehrlich. Mir ist es zu sehr Hipster und das Lied nervt nach mehrmaligem Hören, doch irgendetwas scheint die europäischen Juroren doch davon überzeugt zu haben, sie hoch in ihren Rankings anzusetzen, mehrmals gab es während der Punktevergabe zwölf Zähler. Noch überraschender war für mich der Durchmarsch von Nordmazedonien.

Wir erinnern uns, das Land, das 2012 mit Kaliopi zuletzt im Finale war, hat schwere Jahre hinter sich. Nicht nur der Namensstreit mit Griechenland wurde ad acta gelegt, sondern auch die desaströsen Ergebnisse der Vorjahre. Auf einmal zog Tamara Todevska, die aber auch wirklich eine sensationelle Leistung auf der Bühne zeigte, an den Nationen vorbei und wäre um ein Haar Siegerin im Juryvoting geworden. Man hat ihr bei Schalten in den Greenroom angemerkt, dass sie es selbst am allerwenigsten erwartet hätte. Für Nordmazedonien freut es mich ungemein, wenngleich der Traum von einer Top-Platzierung im Televoting relativ schnell zunichte gemacht wurde.

Bewegend und natürlich von großem Applaus der Halle begleitet, war auch der Auftritt von Kobi Merimi. "Home" finde ich zwar immer noch unglaublich schwülstig, in dem Moment passte das aber hervorragend. Kobi, dem nachgesagt wird, hoch emotional zu sein, konnte seinen Tränen der Rührung am Ende seines Auftritts nicht mehr Einhalt gebieten. Man sah ihm an, welcher Druck in dem Moment von ihm gefallen ist. Er hat seine Sache gut gemacht und wurde vom Publikum getragen. Platz 23 ist für den Sender KAN aber wohl zu verschmerzen, den Eurovision Song Contest zweimal auszurichten, wie man es in den 70ern eigentlich hätte tun sollen, wäre finanziell sicher auch zu viel gewesen.

Deutlich besser lief es da für Sergey Lazarev, den Schützling des russischen Tycoon Phillip Kirkorow. Als er bei einer Greenroom-Schaltung gefragt wurde, ob er sich ein Comeback vorstellen könne, antwortete er ganz souverän mit Ja. Vielleicht wird er es tatsächlich tun müssen, denn seinen dritten Platz von 2016 konnte er in diesem Jahr nur wiederholen und nicht verbessern. "Scream" wäre meiner Meinung nach aber auch kein rechtmäßiger Sieger gewesen. Sergey hat seine Bühnenshow daheim sicherlich bis zum Erbrechen geprobt, damit jeder Handgriff sitzt, technisch war es perfekt, das Lied allerdings nicht stark genug. Trotzdem muss sich Russland bei einem dritten Platz nicht verstecken.

Gleiches gilt für Aserbaidschan, das sich unauffällig während der Punktevergabe nach vorne schob. Chingiz belegte mit seinem "Truth" den siebten Platz, was nicht überraschend ist, bei der Reizüberflutung angesichts der vielen Auftritte, aber doch nicht im Fokus stand. Dabei wird sicher auch die Melodie einen Ausschlag gegeben haben, opulente Shows haben in diesem Jahr schließlich nicht viel zu bedeuten gehabt. Das musste auch Zena aus Weißrussland merken, die mit ihrem Britney-Verschlag sogar noch hinter Deutschland auf dem vorletzten Platz landete oder der flippige Auftritt der Spanier, der sich mit Platz 22 ebenfalls wieder weit hinten einreiht.

Die S!sters... ja, das ist eine neue Baustelle, die sich der NDR dort aufgemacht hat. Selbst in der Nachlese eben auf Eurovision.de kritisierte hr-Moderator Thomas Mohr die Show, stimmlich machte er den beiden keinen Vorwurf. Ich auch nicht, sie haben das Maximum aus ihrem Lied herausgeholt, im direkten Vergleich mit den anderen Nationen sah man aber die Ideenlosigkeit der Delegation. Ernüchterung kam dann spätestens während der Jurywertung auf, als es bis zur irischen Wertung dauerte, ehe überhaupt Punkte auf dem Tableu standen. Am Ende waren es 32 Zähler von den Juroren. 

Den Todesstoß erhielt Deutschland aber im Televoting, als Moderatorin Bar Refaeli entschuldigend in die Kamera blickte und die schweren Worte "Germany you received from the public votes... I'm sorry... zero points". In diesem Moment spürten vermutlich auch die letzten Verblendeten in der deutschen Delegation, das die Kritik im Vorfeld gerechtfertigt war. In solchen Momenten möchte man auch nicht die Rolle von Peter Urban übernehmen und gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Dennoch sollte der eurovisionäre ARD-Ausschuss sich die erfolgsbringenden Formate in anderen Ländern einmal anschauen und vor allem keine abgelehnte B-Ware nachträglich in ihren Vorentscheid einpflegen. 

Im Punktekeller befinden wir uns aber seit Jahren mit unseren treuen Weggefährten aus dem Vereinigten Königreich. Dass Michael Rice den letzten Platz belegte, hat mich doch sehr gewundert. Wie ich nach dem Vorentscheid aber schon sagte, hat es die BBC über Jahre hinweg versäumt mit der Zeit zu gehen und das spiegelt sich immer wieder in den Ergebnissen wieder. "Bigger than us" war kein zeitgemäßer Titel, gut gesungen aber doch nicht haften geblieben. Da kann Komponist John Lundvik froh sein, dass er sich für seine eigene Performance einen anderen Titel ausgesucht hat.

John Lundvik war es auch, der am Ende das Juryvoting gewann und in einer spannenden Sequenz zum Schluss der Punktevergabe Duncan Laurence den Sieg hätte streitig machen können. 253 Punkte hätte er gebraucht, um die Niederlande vom Thron zu stoßen, am Ende waren es 93 Zähler im Televoting. Der Moment, als John die Mundwinkel nach unten fielen, dürfte in den nächsten Tagen ein Aufmacher für viele Instagram-Memes werden. Feiern durften aber die Niederländer, die mit ihrer zurückgenommenen Performance doch alles richtig machten.

Hätte es überhaupt keine Juroren gegeben, wäre der Sieger aber ein ganz anderer gewesen und die Reise wäre 2020 nach Norwegen gegangen. Keiino lieferten eine Zitat, Peter Urban: "Eurotrash-Nummer" vom Feinsten, gespickt mit dem Joik-Gesang von Fred Buljo, der die samische Tradition hochleben ließ. Die Gruppe wurde als Fan-Fail verschrieen, auch ich habe mich dabei ertappt, wie ich "Spirit in the sky" nach und nach in meiner Gunst sinken ließ. Am Ende haben sie aber mit Vorsprung das Televoting gewonnen, womit sie selbst nicht gerechnet haben, wenn man dem Gesichtsausdruck von Sängerin Alexandra Rotan Glauben schenkt.

Somit ist 2019 der Fall eingetreten, dass der Favorit der Zuschauer nur auf dem fünften Platz landete. Zwar haben schon früher die Televoting-Favoriten nicht gewonnen, etwa Il Volo oder oben genannter Sergey Lazarev, dieser Abstand hier wirft aber wieder die Diskussion auf, ob es eine Jury als Korrektiv zum Publikumsvoting braucht bzw. ob die Gewichtung als solches nicht eventuell zu hoch ist. Ich verweise auf andere Jury-Victims, etwa San Marino, das die Top Ten geknackt hätte oder auch die Isländer mit ihrem Hardcore-Auftritt, der viele traditionelle Eurovisionsfans sicherlich einen Herzkasper beschert hat.

Eben jene Isländer werden sich auch noch vor dem Executive Board der EBU verantworten müssen, da sie die Televotingsequenz nutzten, um ihrem lang angekündigten Protest Ausdruck zu verleihen und Schals mit der Aufschrift "Palestine" in die Höhe streckten. Der Sender RÚV bewegte sich schon nach dem Sieg von Hatari beim Vorentscheid auf dünnem Eis und konnte scheinbar nur hoffen, dass ihre Vertreter sich im Zaun halten. Nun sorgten sie aber doch für einen Skandal, da der Wettbewerb offiziell eben unpolitisch sein soll. Das Saalpublikum quittierte das Statement mit Buh-Rufen, die im Nachgang auch die Punktepräsentation für folgende Länder übertönten.

Anerkennung gibt es von meiner Seite aber noch für einige Länder, die sich im Voting sehr gut behaupten konnten, jedoch nicht die Spitze erreichten. Allen voran der Italiener Mahmood mit "Soldi". Wieder einmal zeigt sich, dass das San Remo-Festival qualitativ hochwertige Lieder ausspuckt und Zeit und Ort für ein Lied wie dieses genau richtig waren. Mahmood fehlten nur 27 Punkte zum ersten Platz, ein denkbar knappes Ergebnis, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Punkte insgesamt möglich gewesen wären. Italien bleibt eine Hausnummer beim Eurovision Song Contest.

Ebenfalls grandios war die französische Performance. Bilal Hassani weiß sicher auch selbst, dass er nicht die beste Gesangsstimme hat, die Show, die er im Gepäck hatte, war aber ein deutliches Zeichen und reihte sich in eine Vielzahl von Liedern bzw. Interpreten ein, die sich gegen Mobbing positionierten. Die größte Show lieferten aber die Australier mit ihrer Schwebeperformance ab. Kate Miller-Heidke auf ihrer fünf Meter hohen Stange überwand die Gesetze der Schwerkraft und bot an vorletzter Startnummer einen großartig inszenierten Beitrag, der mit dem neunten Platz ein gütiges Ergebnis fand.

Leider nicht ganz für das Treppchen reichte es bei Luca Hänni aus der Schweiz, meinem persönlichen Favoriten des Abends. Luca hat einen bombastisch choreographierten Uptempo-Song gesungen, der überall, sowohl bei den Juroren als auch im Televoting Anhänger gefunden hat, 360 Punkte kamen zusammen. So viele Punkte erreichten die Schweizer Interpreten zwischen 2013 und 2018 zusammen nicht einmal. Insofern freut es mich total für die Schweiz, dass "She got me" einen respektablen vierten Platz eingefahren hat. Wie es Consi in den Songchecks einst angab: "DSDS war doch für etwas gut" und Luca, der in diversen Ländern die iTunes-Charts stürmte, dürfte in Europa das ein oder andere Engagement erhalten.

Ob sich zukünftige Live-Engagements noch lohnen oder den Ruf zerstören, sollte sich der US-Topstar Madonna fragen. Mit viel Brimborium wurde sie angekündigt, schon am Donnerstag im Halbfinale. Dann, während der Wertungspause stand sie mit Assi Azar im Greenroom und wirkte wie ein Schatten ihrer Selbst. Mit einer Augenklappe und etwa Kilogramm Schminke erklärte sie zunächst alle Teilnehmer des Abends zu Siegern und musste dann selbst auftreten. Für über eine Million Dollar wurde sie gebucht, ihr Auftritt vernichtend.

Mit der Wiederauflage von "Like a prayer" verlor die Queen of Pop in weniger als fünf Minuten ihren Unerreichbarkeitsstatus, sang sie doch schlimmer als alle 26 Interpreten. Den Fall ins Bodenlose führte sie am Ende ihres zweiten Songs "Future" im Duett mit Quavo selbst durch, als sie sich rückwärts von ihrer Showtreppe fallen ließ. Die Welt schreibt passend: "Madonna war unverkennbar live zu hören. Die Stimme halb gebremst, die Töne schief und falsch, immer ein bisschen daneben und ziemlich unpassend.Da lobe ich mir doch die lokalen und eurovisionären Acts, die das Pausenprogramm füllten. Das Idan Raichel Project und auch der Mash Up von Conchita, Måns Zelmerlöw, Eleni Foureira und Verka bieteten wesentlich mehr Kurzweil. Besonders genial war Verkas Version von "Toy".

Der Eurovision Song Contest 2019 entwickelte sich, entgegen meines Gemeckers im Vorfeld, doch zu einem spannenden Unterfangen, mit qualitativ hochwertigen Songs und Klatschen für die Delegationen, die kein bzw. kaum Herzblut investierten. Die israelischen Organisatoren haben einen tollen Job gemacht und aufgrund der mageren Punkteausbeute verzeihe ich auch Peter Urban die verwirrte Aussage, dass Dänemark zwölf Punkte vom "Nachbarn" Italien erhielt. Im Team Deutschland wird etwas Geschehen müssen, damit der Schulte-Effekt in Zukunft wieder häufiger auftritt und wir nicht nur Füllmaterial schicken oder gar den Anschluss an Europa verlieren.


Als Opener gebucht: Dana International | Das Moderatoren-Quartett machte drei Abende eine gute Figur
Da war die Stimmung noch ausgelassen: Lake Malawi und die deutsche Delegation im Greenroom
Wieder nur Dritter: Sergey Lazarev für Russland | Die Zuckerguss-Delegation aus Dänemark
Kann wirklich "proud" auf ihr Ergebnis sein: Tamara Todevska wurde für Nordmazedonien Achte
Feuchtfröhlich lief die Punktevergabe bei den Zyprioten ab, kuschelig bei Slowenien
Überflieger im Televoting: Keiino aus Norwegen | Interview mit den Rückkehrern: Lucy Ayoub und Assi Azar interviewen Tamara Todevska, Serhat und Sergey Lazarev
Eröffnete die ganze Show: Michela aus Malta | Der tschechische Auftritt von Lake Malawi
Kellerkinder: Die deutschen S!sters und Michael Rice für das UK
Inhaltsstarke Performances lieferten Mahmood aus Italien und Tamara aus Nordmazedonien
Der Spaßbringer aus San Marino: Serhat | Der Sieger des Abends: Duncan Laurence
Überwältigt vom Support der Zuschauer: Kobi Merimi | Gegner des Kapitalismus: Hatari
Choreographisch ganz weit vorne: Bilal Hassani und Luca Hänni
Down Under präsentierte sich diesmal 'On the top': Kate Miller-Heidke | Farbenfrohes Spanien
Ein unterhaltsamer Interval: Verka macht Netta | Fünf ESC-Größen singen "Hallelujah"
Das musikalische Sterben eines Weltstars: Madonna
Eingekleidet wurde sie von Jean-Paul Gaultier, hier im Bild mit Bar Refaeli | Das Scoreboard
Der Sieg ging an den 25jährigen Duncan Laurence aus Spijkenisse in Zuid-Holland
Stolz auf sein Glasmikrofon: Duncan bei der Pressekonferenz