Schweiz - 860.000 Zuschauer sahen gestern Abend in Deutschland das zweite Halbfinale bei ONE, rund 200.000 mehr als noch im ersten Halbfinale. ONE erreichte damit einen Platz unter den ersten Fünf der meistgesehenen Sendungen beim jungen Publikum, weshalb man sich die Frage stellt, warum man die Halbfinals aus ARD-Sicht weiterhin im Spartenprogramm belässt. Beim Gesamtpublikum reichte es für 4,7% Marktanteil, in der werberelevanten Zielgruppe sogar für 10,8%. Vielleicht wäre es mal ein Feldversuch, die Shows im nächsten Jahr etwas prominenter zu zeigen, als der Song Contest in Düsseldorf stattfand hat es schließlich auch funktioniert.
Doch genug der Quoten, der gestrige Abend möchte noch aufgeräumt werden und der könnte zumindest was die Ergebnisse angeht unter dem Motto des britischen Song Contest-Beitrags "What the hell just happened?" laufen. Da waren einige faustdicke Überraschungen dabei, die man so nicht hat kommen sehen, auch wenn bereits absehbar war, dass dieses Halbfinale noch unberechenbarer sein würde, als der Auftakt am Dienstag. Nach einem kurzen Intro von Sandra Studer und Hazel Brugger, die sich in einem Kostüm präsentierte, das eine Mischung aus einlaminiertem Regenbogenfisch und CD-Rohling darstellte, ging es recht fix auch schon mit Australien als Opener los.
Go-Jo war mein persönlicher Favorit beim diesjährigen Wettbewerb, weil der Song verrückt, catchy und auf simple Art und Weise unterhaltsam ist. Da hätte ich ihm auch die ein oder andere verstimmte Note durchgehen lassen, aber abgesehen davon, dass er sich gleich zweimal seiner Klamotten entledigte, wirkte die Bühnenshow einfach völlig blödsinnig, man hätte sich vielleicht eher am Musikvideo orientieren können und diese QVC-Einblendungen weglassen sollen. Somit war der weite Weg der australischen Delegation nach Europa irgendwie vergebens, zum zweiten Mal in Folge kehren die Aussies unverrichteter Dinge zurück.
Ebenso wenig belohnt wurde die Ballade von Nina Žižić, die das Comeback Montenegros mit dem Finaleinzug perfekt machen wollte. Obwohl sie schon zuvor als chancenlos galt, hat sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten aber alles gegeben und ich bin mir auch sicher, dass es da einen regen Punktetausch zwischen Serbien und Montenegro gab, am Ende reichte es aber weder für die in weiß gehaltene Nummer aus Montenegro noch für den serbischen Prinzen, der sich von seinen Tänzern wie ein Wischmop über die Bühne hat ziehen lassen. Nina ist damit in den Kreis derjenigen eingetaucht, die gleich bei zwei Song Contest-Teilnahmen den Sprung ins Finale versäumten.
Auch für Startnummer drei hat es nicht sein sollen. Emmys Ode an die sowjetische Straßenhündin Laika wurde nicht ausreichend gewürdigt. Das schiebe ich ebenfalls auf die zum Teil recht dünne stimmliche Leistung der gebürtigen Norwegerin zurück, die sich zwar ins Zeug legte, dem klassischen Genre des Eurodance noch eine Chance beim Song Contest zu geben, aber letztlich doch von der Konkurrenz deklassiert wurde. Zumindest hatte Emmy in Basel und auch auf der Bühne viel Spaß, ihr Bruder am Keyboard hingegen wirkte die ganze Zeit so, als sei er von seiner umtriebigen Schwester einfach nur mitgeschleppt worden.
Ebenfalls nicht sonderlich begeistert wirkten die Gesichter der Mitglieder von Katarsis. Ich kann weder das Lied noch dessen Intention richtig greifen, weshalb ich mir auch dachte, dass das beim Voting nicht genügend Anhänger findet. Es ist alles dystopisch, karg und monoton. Beim Eurovision Song Contest erwarte ich irgendwie mehr Begeisterung, es wirkte so, als hätten sie sich gedacht "Na okay, dann singen wir jetzt halt". Das ist auch eine Form von Kunst, die in Europa doch eine Anhängerschaft gefunden hat, von der ich bisher nichts wusste. Die Nachbarn aus Lettland sind mit ihrem elfenhaften Ethnokunststück ebenfalls ins Finale eingezogen, Lettland hat seine lange Durststrecke scheinbar endgültig überwunden.
Mit einer großartigen Portion Ethno und zweigeteilter Gut/Böse-Performance haben Tautumeitas den zweiten Finaleinzug in Folge perfekt gemacht. Noch größer dürfte die Freude allerdings bei Dänemark sein, das erstmals seit 2019 wieder am Finale teilnehmen darf. Sissal hat trotz Erkältung in den Knochen einen wahnsinnigen Auftritt hingelegt. Sie hat gegen die Windmaschine angekämpft und selbst mich überzeugt, der das Lied eigentlich zu generisch fand. Und sowohl während der Performance als auch später im Greenroom und den Erzählungen von anwesenden Journalisten merkt man, dass Sissal eine herzensgute Person ist, die mit ganz viel Spaß und Humor an das Projekt Eurovision herangeht.
Das krasse Gegenteil, nämlich Testosteron pur, sodass der gesamte Beitrag daran übersättigt wird, kam aus Armenien. Parg hat den einsamen Kämpfer auf der Bühne gemimt, auf dem Laufband und mit Schwerölflecken auf der Brust. Männlicher hätte das Ganze nicht sein können und doch hat es genügend Abnehmer gefunden, sodass sich "Survivor" für das Finale qualifiziert hat, zugegeben zu meiner großen Überraschung. Eigentlich hätten nur noch Autoreifen auf der Bühne gefehlt, denn den Werkstattgeruch hatte man beim Zusehen zweifelsohne in der Nase.
Die Favoriten des Abends sind ebenfalls alle weitergezogen, JJ mit seiner Odyssee auf hoher See in Schwarz-Weiß-Optik, Yuval Raphael aus Israel mit ihrem glitzernden Türmchen, in dessen Strassapplikationen sich zeitweise ihr schwarzes Kleid verhedderte und natürlich auch Erika Vikman mit ihrer One Woman-Show, die mit der Schlussnummer den wörtlich zu nehmenden Höhepunkt setzte. All jene sehen wir wieder, genauso wie Miriana Conte, die sich ehrlich darüber freute, auch im Finale noch aufzutreten. Bei ihr hatte ich noch die größten Befürchtungen, dass die Nummer, wenig subtil, mit gespreizten Beinen auf den LEDs unter die Räder kommt.
Komplettiert wird das Finale durch die Emanzipationshymne einer Puppe und exakt 60 Jahre später mit einer Hommage an France Gall, die den Durchmarsch der süßen Nummer aus Luxemburg leider nicht mehr miterleben konnte. Laura Thorn hat mich positiv überrascht, für das Finale sehe ich aber eher schwarz, nicht zuletzt weil man sie auf den undankbaren zweiten Platz gesetzt hat, von dort hat noch nie ein Künstler in fast 70 Jahren irgendetwas gerissen... Als letzter Finalist wurde Griechenland bekannt gegeben, ein Ausscheiden von Klavdia, die natürlich Nana Mouskouri-Vibes weckt, wäre ebenfalls eine massive Überraschung gewesen.
Kein Wiedersehen gibt es hingegen für Tschechien, Adonxs hat zwar gut performt, der Dancebreak hat dem Lied gut getan, aber in Kombination mit einem doch eher mauen gesanglichen Auftritt, ging die Rechnung nicht auf. Tschechien scheidet damit erstmals seit dem Comeback 2015 zum zweiten Mal in Folge im Halbfinale aus, was sich hoffentlich nicht auf die Begeisterung für die nächsten Jahre auswirkt. Zu guter Letzt ist auch Georgien rausgeflogen. Mariam Shengelia hat zwar nett gesungen, ihre Tänzer haben alles gegeben, wie dereinst die von Sopho Khalvashi in Helsinki, das wirre Liedkonstrukt war dann aber wohl doch zu sperrig.
Ein Wort noch zu den Big Five. Abor & Tynna haben sich meiner Meinung nach recht gut verkauft, nach einem Moment den der Song brauchte um in die Gänge zu kommen, wurde im wahrsten Sinne des Wortes geballert, trotzdem wage ich mich nicht zu sagen, dass "Baller" über das Mittelfeld hinauskommt. Ansehnlich und ergreifend war der Auftritt von Louane aus Frankreich, die drei Minuten unentwegt unter dem zirkulierenden Sand eine Ode an ihre Mutter sang und damit gewiss im oberen Drittel landen wird. Die Wettquoten sehen "Maman" derzeit an dritter Stelle, ich auch.
Und dann war da noch das Vereinigte Königreich mit seiner Hangover-Nummer "What the hell just happened?". Die Kritik, dass da zu viele Tempiwechsel auf einmal stattfinden und die Akteurinnen wie kleine Gören aussehen, die in die Kamera kichern und sich ansonsten nur darüber auslassen, wie man am gestrigen Abend wilde Maus gespielt hat, ist schon berechtigt. Das Konzept des Songs ist klar, aber ich habe große Zweifel, dass das funktioniert. Wie schon bei Olly Alexander im letzten Jahr, denke ich, dass das UK gnadenlos durchfallen wird.
Nach dem Schnelldurchlauf und dem üblichen Geplänkel gab es dann den Interval-Acts der 2020 gesetzten Kandidaten Gjon's Tears, The Roop, Efendi und Destiny, denen ich ihren Auftritt mit ihren Songs von damals zwar gönne, aber ich mich trotzdem frage, warum man diese Ergriffenheit gespielt hat, wenngleich alle vier im Jahr darauf in Rotterdam aufgetreten sind, während Interpreten wie Damir Kedžo, Aksel Kankaanranta, Ulrikke und Elisa daheim sitzen mussten und das Feld 2021 für Vorentscheide räumen mussten. Das war ein bisschen am Thema vorbei...
Und dann war da noch die Bekanntgabe der Finalisten, über die ich heute weniger sagen kann, da das Prinzip nunmehr eingespielt ist. Trotzdem bleibt es eine überflüssige Verlängerung der Dramatik und Spannung, die am Ende aber kaum spannender ist, als die klassische Bekanntgabe, wie wir sie aus den letzten Jahren kennen. Einen epischen Meme-Moment kreierte dann noch Hazel Brugger im Greenroom, als sie mit Erika Vikman Käsefondue aß. Dass die Finnin das Schauspiel mitmacht war natürlich klar.
Als Rausschmeißersong sang Sandra Studer dann noch "Insieme 1992" von Toto Cutugno in ihrer eigenen Interpretation und rundete einen recht angenehmen Halbfinalabend ab. Held des Tages ist neben den Volunteers, die Gerüste, Türme, Vorhänge und andere Konstruktionen auf- und abbauen und zusätzlich noch den französischen Sand wegsaugen müssen,für mich aber der Mann, der mit der Liechtenstein-Flagge im Publikum steht und als Einzelkämpfer für das Fürstentum wirbt.
Die Blicke sind nunmehr auf das Finale morgen Abend um 21 Uhr gerichtet. Bis dahin finden noch drei Generalproben statt, die erste heute Nachmittag, heute Abend um 21 Uhr dann das Juryfinale, in dem die 37 Jurys in Europa mit Klemmbrettern bewaffnet unter notarieller Aufsicht ihre Rankings erstellen und schließlich morgen Nachmittag die letzte Generalprobe bevor es dann um die gläserne Trophäe und die Frage geht, ob es Stockholm, Wien oder doch noch ein Überraschungskandidat wird.
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Mochte beide, gereicht hat es für keinen, Australien und Montenegro sind draußen |
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Auch die Kosmonautenshow ist vorbei, Emmy für Irland | Weiter hingegen ist der starke Mann aus Armenien im Überlebensmodus |
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Bei schwerem Seegang in den sicheren Hafen gesegelt: Österreich | Flammende Bäume und pontisches Erbe gibt es am Samstag aus Griechenland |
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"Diva not down", das stimmt, Miriana darf Samstag nochmal ran | Die Georgier sind hingegen mit wehenden Fahnen im Semifinale untergegangen |
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Mit Halsschmerzen gegen die Windmaschine, 12 Punkte für Dänemark | Warum die vier Gürtel? Adonxs aus Tschechien ist draußen |
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Classy zieht immer: Das Retro-Puppentheater aus Luxemburg und die starke hymnenartige Ballade aus Israel sind morgen Abend im Finale mit am Start |
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Zumindest wurde nicht an den Haaren gezogen: Princ aus Serbien | Fulminanter Pyro-Höhepunkt am Ende der Beiträge: Erika Vikman aus Finnland |
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Dazwischen tummelten sich noch das UK vor dem Paravent und Louane in ihrem Sandbad |
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Solide performt: Abor & Tynna für Deutschland | The Moment of Truth: Hazel und Sandra |
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Appenzell, Gruyère und Emmental in den Postcards und dann noch Fondue im Greenroom, der ESC ist heuer recht käselastig | JJ mal in Farbe |
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Da war die Stimmung noch gut: Go-Jo und Nina im Greenroom |
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Katarsis und Tautumeitas folgen Estland ins Finale und komplettieren das Baltikum |
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The Class of 2025 beim Feiern nach dem zweiten Halbfinale |