Sonntag, 15. Mai 2022

Eurovision 2022: Zusammenfassung des Finales


Italien
- Der Eurovision Song Contest 2022 ist zu Ende, Delegationen reisen ab, in der einen Hälfte Europas freut man sich über gute Platzierungen, in anderen Teilen macht sich Frustration und Enttäuschung breit. Das ist in jedem Jahr so und auch 2022 nicht anders, wenn das Finale abgeschlossen ist und der Sieger feststeht. In diesem Jahr muss man das Ergebnis, insbesondere was den ukrainischen Sieg betrifft, aber von zwei Seiten betrachten. Zum einen aus musikalischer Sicht, denn "Stefania" ist ein wunderbarer Song, der eine tolle Botschaft, nämlich die Liebeserklärung an die eigene Mutter als Kern hat und der sich so oder so hoch platziert hätte, zum anderen unter dem Aspekt der aktuellen Geschehnisse in der Ukraine.

Mit 439 von 468 möglichen Televoting-Stimmen reißt der ukrainische Beitrag die bisherigen Rekorde ein, nicht zuletzt aufgrund der geschlossenen Solidarität der Europäer für das Land. Der Eurovision Song Contest hat eindrucksvoll gezeigt, dass "Stand with Ukraine" nicht nur eine salopp in den Raum geworfene Phrase ist, sondern sich alle weiteren 39 Länder im Geiste zur europäischen Idee bekennen, die der Eurovision Song Contest seit über 65 Jahren vermittelt. Womöglich hätte das Televoting bzw. das Gesamtergebnis ohne die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine anders ausgesehen, aber man muss auch klar erkennen, dass der Beitrag eine ordentliche Nummer war, der auch ohne den Bonus sehr gut angekommen wäre.

Die Ukraine ist seit Jahren ein Garant für qualitativ hochwertige Lieder, nicht einmal hat man, auch in Friedenszeiten, das Finale der Eurovision verpasst. Vielleicht hätte es in normalen Zeiten nur einen vierten oder fünften Platz gegeben, aber jedem Zuschauer des Wettbewerbs stand es frei, für seinen Favoriten abzustimmen und schlussendlich sind 439 Punkte im Televoting eine deutliche Sprache, die Jury hat "Stefania" nur 192 Punkte gegeben. Es war also ein Sieger der Zuschauer, das kann man drehen und wenden wie man möchte. Wo der nächste Song Contest unter welchen Umständen stattfindet weiß momentan niemand, aber es wurde eine Entscheidung getroffen, die es an dieser Stelle zu akzeptieren gilt.

Doch beginnen wir unsere Zusammenfassung vorne und räumen das Feld chronologisch auf. Vier Stunden lang veranstaltete die RAI, der öffentlich-rechtliche Rundfunk Italiens das große Finale, eröffnet durch die Rockin' 1000. Die italienischen Organisatoren setzten hier mit "Give peace a chance" das erste Zeichen der Solidarität für die Ukraine. Das übrige Rahmenprogramm war allerdings phasenweise schon sehr spartanisch. Klar hat man mit zwei Musikern als Moderatoren die Gelegenheit, ein Best Of von Laura Pausini und Mika zu zeigen, die RAI hat es sich mit ihrem Bespaßungsprogramm allerdings auch recht einfach gemacht. Den Eindruck hatte man schon in den Halbfinals, als man z.B. "schöne Geräusche" zur Überbrückung aneinanderreihte.

Der große Vorteil war, dass im Publikum offenbar überproportional viele Italiener saßen, die die Stimmung während der Eröffnungsnummer, dem Medley von Pausini-Songs mitgetragen haben, auch später bei Mika und dem Pausenfüller durch Måneskin, haben die Zuschauer ihre nationalen Stars gefeiert. Wobei ich es als frech empfand, dass der Auftritt von Måneskin augenscheinlich nur der eigenen Promotion diente und man "Zitti e buoni" nicht einmal angestimmt hat. Offenbar absolvierte die Gruppe, die im letzten Jahr noch Feuer und Flamme war, ich erinnere an den fassungslosen Blick von Gitarrist Ethan nach dem Sieg, ihren Auftritt nur aus Pflichtgefühl. Das stieß mir sauer auf, auch dass im Skript keine Übergabe der Trophäe durch Måneskin vorgesehen war.

Und da ich bereits das italienische Konzept kritisiere, muss ich auch noch einmal auf die Probleme der gesamten Show hinweisen, die insbesondere technischer Natur waren. Der Eurovision Song Contest ist minutiös geplant, online konnte man exakt sehen, wie der Plan des Abends war und doch schafft man es nicht, den Kameramann während des Schnelldurchlaufs vor den richtigen Tisch zu stellen. Als der ukrainische Beitrag im Recap gezeigt wurde, blendete man die deutsche Delegation ein, phasenweise sah man sogar, wie das Kamera-Team hektisch durch den Greenroom lief, um rechtzeitig z.B. am australischen Tisch zu stehen. Das wirkte sehr unglücklich. Ebenso die langen Kamerafahrten nach den einzelnen Beiträgen um zusätzliche Zeit für den Umbau auf der Bühne zu schaffen.

Dann waren da noch die drei Schaltungen zu den Spokespersons aus Rumänien, Aserbaidschan und Georgien, von denen wir nun nicht wissen, ob es wirklich technische Probleme gab, nach Bukarest, Baku und Tiflis zu schalten oder ob dies nach den "fradulent votes" im Halbfinale nur ein Vorwand war, um erneute Jury-Auffälligkeiten durch den Supervisor Martin Österdahl zu unterbinden. Technische Probleme wären hier erstaunlich, da man die Spokespersons der betroffenen Länder auch zu einem späteren Zeitpunkt hätte aufrufen können und es offenbar keine Schwierigkeiten gab, bis zu Courtney Act nach Australien zu schalten, die vor einem Regenbogen an der Harbour Bridge in Sydney massiv imponierte und man selbst Kateryna Pavlenko in der Ukraine störungsfrei empfangen konnte...

Eröffnet wurde die Line Up durch Tschechien. Während man im Halbfinale noch die Show beendete, mussten We Are Domi gestern eröffnen. Im Gegensatz zum Semifinalauftritt wirkte Frontsängerin Dominika sehr nervös, was sich auch auf die Stimme auswirkte, der Zusammenschnitt im Recap wirkte sehr dünn und das merkt auch der Zuschauer. Am Ende gab es den 22. Platz für Tschechien, verdientermaßen im Finale dabei, aber dort eben, wie meist bei tschechischen Auftritten, vom Publikum wenig beachtet. Dennoch kann sich die Delegation wieder einmal für einen zeitgemäßen Titel auf die Schulter klopfen. Ähnlich wie auch Team Rumänien, das erstmals seit 2017 wieder an einem Finale teilnehmen durfte.

WRS hat im Zuge seiner Choreographie das Maximum aus "Llámame" herausgeholt, am meisten gewürdigt wurde der Auftritt von den Nachbarn aus Moldawien mit zehn Punkten und den spanischen Zuschauern. Platz 18 geht hier  völlig in Ordnung. Ebenso der neunte Platz für Portugal. Das Land zeigt, dass es nicht viel braucht und man mit Harmonie und Melodie viel bewirken kann. Maro und ihre Mädels profitierten von den Juroren, die sich durch das portugiesische Lebensgefühl Saudade eher angesprochen sahen, als die Zuschauer, aber das war zu erwarten. Es freut mich, dass Portugal nach vielen Jahren der Pleiten offenbar einen Weg gefunden hat, mit seiner Musik auf unaufdringliche Art und Weise zu begeistern.

Etwas schade finde ich den 21. Platz für Finnland. The Rasmus erzielten insgesamt 38 Punkte, da habe ich allein aufgrund des Namens der Band schon mit mehr gerechnet und erwartet, dass sie an den Top Ten kratzen. Allerdings spürte man auch bei Frontmann Lauri Ylönen zu Beginn eine große Nervosität, die im Laufe seiner Performance zu "Jezebel" jedoch zurückwich. Aufgrund der höheren Stimmen im Televoting landeten die Finnen vor Tschechien, die punktgleich mit The Rasmus konkurrierten, so will es das Regelwerk der EBU. Finnland ist eines der Länder, die bereits ihre Teilnahme für den kommenden Eurovision Song Contest bestätigt haben, der Vorentscheid kehrt zurück und gewiss werden hier wieder populäre Acts nicht vor einer Teilnahme zurückschrecken.

Startposition fünf ging an den Schweizer Marius Bear. Dieser hat im Vergleich zum Semifinale noch einmal einen Zacken mehr Gas gegeben und für mich augenscheinlich noch wesentlich kräftiger performt, als noch am Dienstag. Stefan Spiegel nannte „Die Modulation verändern“. Trotzdem und das zeichnete sich schon in den Wettquoten und Fanrankings ab, blieb der Beitrag eine Nullnummer beim Publikum. Kein einziges Pünktchen im Televoting, nur getragen von den Jurys, reichten am Ende immerhin zu Platz 17 und einem großen Applaus der Anteilnahme der Moderatoren und der Zuschauer im PaliOlimpico. Besonders süß fand ich, dass der spätere Zweitplatzierte Sam Ryder nach der Null-Punkte-Bekanntgabe zum Schweizer Tisch kam und Marius herzlich in den Arm nahm. Daran erkennt man, wie groß der Support der Delegationen für die anderen sind.

Erschrocken bin ich über das spärliche Abschneiden von Frankreich. Ja, bretonischer Hexentanz und wilde Voodoo-Vibes sind nicht jedermanns Sache, aber 17 Punkte und ein vorletzter Platz?! Dabei haben Alvan insbesondere seine Damenformation von Ahez alles getan und sich im Vergleich zu früheren Proben deutlich gesteigert. Da habe ich mich gewaltig verspekuliert und gedacht, dass die Mischung aus Folk und Elektro-Musik besser ankommt. Dennoch bewundere ich den Mut Frankreichs in diesem Jahr. Wenig überraschend landeten die Subwoolfer aus Norwegen, die danach antraten, auf Platz zehn. Von den Juroren weitestgehend ignoriert, fand "Give that wolf a banana" beim Televoting dankbare Abnehmer. Die Show war originell und witzig, wenn man sie zum ersten Mal sieht. Somit gehen 182 Punkte in total schon in Ordnung.

Armeniens Sängerin Rosa Linn hingegen schnitt nur mittelmäßig ab, bei den vielen ruhigen Nummern in der Line Up muss es auch irgendwo Verlierer geben. "Snap" erreichte Platz 20. Hinter den Erwartungen zurück blieb danach auch das italienische Duo. Hier hat sich offenbar gerächt, dass das Team die Proben nicht ernst genommen hat, Mahmood und Blanco versprühten nicht den Zauber, den man aus San Remo kannte. Der Funken sprang einfach nicht über und insbesondere in den dualen Gesangsparts wirkte "Brividi" nicht rund. Dafür sind die Italiener mit Platz sechs noch ganz gut bedient. Immerhin hielten sich die Punkte aus Jury- und Televoting für Italien etwa die Waage und anders als in den letzten Jahren, spielte der Gastgeber im Ranking noch eine Rolle, die Niederlande, Portugal oder Israel haben gezeigt, dass es auch durchaus anders ablaufen kann...

Begeistert bin ich über den dritten Platz für Spanien. Nicht nur, dass "SloMo" vom Publikum abgefeiert wurde und Chanel in der zweiten Hälfte ihrer tanzreichen Performance die Bühne abfackelte, nein, sie schaffte zu meiner großen Überraschung den Spagat sowohl Juroren (231) als auch Zuschauern (228 Punkte) zu gefallen. Bei keinem Land ist die Diskrepanz zwischen den beiden Wertungen geringer als bei Spanien und es freut mich ungemein, dass ein Format wie Benidorm solch eine Kraft hat, Spanien nach Jahren im Punktekeller wieder ins Geschehen zu katapultieren. Akrobatik, Glitzer, Feuerwerk, eine tolle Inszenierung und wundervolle Backgroundtänzer (¡Hola, Pol Soto!) haben gezündet.

Man kann dem ganzen Team und dem neuen Direktor von RTVE nur gratulieren, was sie in den letzten Monaten vollbracht haben. Spanien feiert wieder den Song Contest und Chanel kann mit Bronze zurück nach Hause reisen, me quito el sombrero, España! Hoffen wir, dass das tolle Ergebnis für einen ähnlichen Vibe und eine Renaissance sorgt, wie z.B. in Frankreich vor ein paar Jahren, als man die "Destination Eurovision" einführte oder in der Schweiz, wo es seit einigen Jahren mit der Kandidatenauswahl recht erfolgreich läuft, die Zeichen stehen gut, dass man in Spanien aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat.

Den Hut ziehe ich auch vor der niederländischen Sängerin S10. Genauso bewegt wie im Semifinale sang sie "De diepte" und belegte damit einen souveränen elften Platz. Sie schaffte es mit wenigen Mitteln, sondern nur durch die Emotionalität ihrer Stimme und einigen Gestiken, eine Stimmung zu transportieren, die sich richtig anfühlte. Man nahm ihr ab, was sie da tat und meiner Meinung nach können auch die Niederländer stolz auf ihre Kandidatin sein. Daraufhin folgte die Ukraine, zu deren Performance und Sieg ich eigentlich schon alles gesagt hatte. Die Mischung aus Ethno-, Rap- und Popelementen hat wunderbar funktioniert, der Backdrop, die Choreographie, alles erscheint schon siegeswürdig. Und auch wenn politische Botschaften beim Song Contest nicht erwünscht sind, so dürfte die EBU im Fall der namentlichen Erwähnung von Mariupol und Azovstal diesmal wohl ein Auge zudrücken.

Überhaupt gab es große Anteilnahme für die Ukraine, auch bei den Spokespersons, die den Sinn und Zweck der Eurovision in "schwierigen Zeiten" betonten. Barbara Schöneberger fasste es auch gut zusammen: "No boundaries, no limits and so much love", das brauche Europa in Zeiten wie diesen. Nach der Ukraine folgte ein kurzer Break, ehe es mit Malik Harris und Deutschland weiterging. Es wurde, auch von mir, viel im Vorfeld kritisiert, am Vorentscheid, am Auftritt und generell über das Verhalten, wie der NDR mit dem Eurovision Song Contest umgeht, aber dafür kann unser deutscher Interpret nichts. Und ich betone nochmals, dass Malik in Turin einen fantastischen Job gemacht hat. Er war geduldig im Umgang mit Journalisten, hatte Spaß in der Bubble und hat auch prima auf der Bühne abgeliefert.

Während der Anfang vielleicht noch etwas wackelig war, blühte die Show spätestens beim Rap-Part auf, den man ernst nehmen musste. Leider hat es wieder nur zu sechs Punkten gereicht, aber über das Zustandekommen des Ergebnisses habe ich ja bereits ausreichend philosophiert. Zumindest kann man Malik zu einem tollen Auftritt im Rahmen seiner Möglichkeiten gratulieren, wir wurden durch einen sympathischen und tollen Kandidaten vertreten, der anders als z.B. Jendrik im Vorjahr, seine Enttäuschung ausdrückt und dabei trotzdem gesichtswahrend aus der Show ausscheidet. Zum ersten Mal seit Jahren freue ich mich mit dem deutschen Interpreten, dass er die Zeit genießen konnte und dies nicht nur sagt, um der Presse gerecht zu werden, man kauft es ihm ab.

Weniger euphorisch reagiere ich aber auf die Aussagen der Delegationsleiterin Alexandra Wolfslast, die Malik zwar ebenfalls lobend erwähnte, aber sich das schlechte Abschneiden wieder einmal nicht erklären kann. "In Deutschland kam der Song im Radio und im Streaming sehr gut an", heißt es in einem Interview. Dass "Radiotauglichkeit" aber der absolute Overkill für einen Beitrag beim Eurovision Song Contest ist, muss doch irgendwann auch mal beim NDR ankommen... eben dies wurde sogar innerhalb des Teams von Eurovision.de kritisiert, Thomas Mohr, Redakteur bei NDR2 und auch die übrigen Teilnehmer des eben in Turin gesendeten Katerfrühstücks haben die Problematik erkannt, nur wollen diejenigen, die das wirkliche Sagen haben, das offenbar nicht verstehen... Trotzdem lege ich meine Hoffnungen auf 2023, vielleicht bringt das Nachdenken ja was.

Nach Deutschland war Litauen an der Reihe, das in den Wettquoten zuvor abgeschrieben wurde. Tatsächlich ist ein Chanson auf Litauisch ungewöhnlich, die nostalgisch anmutende Choreographie, das Lichtkonzept, das Paillettenkleid, die Frisur, all das versprühte den Charme einer Baccara-Performance, aber sie kam erstaunlich gut an! Platz 14 ist mehr, als ich Monika Liu im Vorfeld zugetraut hätte und ich freue mich sehr, dass Europa diesen Auftritt gewürdigt hat. Denn es waren mehrheitlich die Zuschauer (93 Punkte) und nicht die Jurys (35 Punkte), die "Sentimentai" zu schätzen wussten. Der klassische Auftritt kommt beim Eurovision Song Contest eben nie aus der Mode.

Aserbaidschan war als nächstes an der Reihe und ich möchte dazu eigentlich nichts mehr sagen. Mir ist es unerklärlich, was Nadir Rüstəmli mit "Fade to black" im Finale zu suchen hat und warum die Juroren dafür 103 Punkte übrig hatten. Man sollte niemandem etwas unterstellen, aber ich finde es schon speziell, dass ein Lied, das schon im Halbfinale null Punkte im Televoting erreicht und im Finale auch nur drei Punkte aus Georgien anlockt, es bis auf Platz 16 geschafft hat. Aserbaidschan stand schon vor einigen Jahren unter Beobachtung und mir widerstrebt es ein bisschen, nicht das Wort "Korruption" in den Mund zu nehmen. Freilich müssen andere darüber urteilen, aber ich finde das Abschneiden von Aserbaidschan schon sehr verdächtig...

Belgien hingegen landete erwartungsgemäß auf den hinteren Rängen. Jérémie Makiese hatte drei tolle Minuten auf der Bühne, das Lied ging im Gros der Teilnehmer jedoch unter. 64 Punkte, davon fünf vom Publikum, ebenfalls weniger als für Malik, waren das Outcome für "Miss you". Dennoch hat Jérémie stimmlich beeindruckt und kann ebenfalls erhobenen Hauptes aus Turin zurückkehren. Genauso wie die für Griechenland angetretene Amanda Tenfjord, die mit Platz acht ein standesgemäßes Ergebnis vorweisen kann. Mich beeindruckt die Tiefe ihres Ausdrucks auf der Bühne, das Lied und ich werden aber keine Freunde mehr. Mit dem achten Platz kann ich allerdings auch leben.

Dann gab es da noch die drei Schwestern aus Island. Systur wurden nicht nur Opfer der Startreihenfolge, am Ende eines ruhigen Blocks von zurückgenommenen Liedern, nein, sie waren langweilig. Klar haben sie nett in die Kamera gelächelt und sich süß verhalten, aber das Lied war eben nicht das Gelbe vom Ei. Im völligen Kontrast dazu der folgende Act aus Moldawien. Zdob și Zdub und die Brüder Advahov rockten die Bühne mit witziger Folklore, treibender Melodie, einer lustigen Geschichte über eine Zugfahrt von Chișinău nach Bukarest und konnten am Ende Zweite im Televoting werden, u.a. gab es zehn Punkte aus Deutschland und klassischerweise zwölf Punkte vom rumänischen Televoting. 

Zdob și Zdub stellten in Turin einen neuen Rekord auf, sie sind die ersten Kandidaten, die gleich dreimal den Sprung vom Semifinale ins Finale schafften, noch dazu in drei unterschiedlichen Jahrzehnten. Europa feiert diese Art von Musik und Polonäse auch 17 Jahre nach der trommelnden Großmutter immer noch mit großer Leidenschaft. Platz sieben ist für die kleine Republik ein fantastischer Erfolg und man kann dem Land nur gratulieren, dass es in seiner Rolle als Klassenclown stets mit Originalität gute Akzente setzt. Wobei der Unterschiede zwischen Jury- (14) und Televoting (239 Punkte) nicht größer hätte sein können. 

Danach hockte Cornelia Jakobs aus Schweden auf der Bühne, die genauso souverän und inbrünstig "Hold me closer" sang, wie schon im Halbfinale und verdientermaßen den vierten Platz erreichte. Von den Juroren wieder einmal mehr geliebt als von den Zuschauern, zeigte sie bei ihrem Auftritt, dass es nicht immer der Schweden-Sound sein muss, den Benjamin Ingrosso und Co. in den letzten Jahren geliefert haben. Ernüchternd hingegen dürfte der Abend für Sheldon Riley geendet haben. Seine Over-the-Top-Performance reichte zu Platz 15, getragen von den Juroren, die offenbar neben Schweden auch einen Faible für Australien haben. Im Zuschauervoting gab es nur zwei Pünktchen, in der Summe erhielt die persönliche Story über die verzweifelte Kindheit den 15. Platz.

Verdientermaßen feiern konnte dafür endlich mal wieder das Vereinigte Königreich. Während man sich in den letzten fast 20 Jahren zum kollektiven Lustigmachen in britischen Pubs getroffen hat und ein gewisser Terry Wogan maßgeblichen Anteil daran hatte, dass der Song Contest im United Kingdom nicht ernst genommen wird, hat die BBC heuer alles richtig gemacht. Mit guter Promotion, einem starken Partner und einem hochinteressanten Interpreten, kam ein zweiter Platz heraus. Während man im letzten Jahr noch jammerte, dass niemand in Europa die Briten mag, zeigte Sam Ryder, dass mit einem exzellenten Lied (Zitat: Thomas Mohr) alles möglich ist. Ähnlich wie Schweden kam "Space man" bei den Juroren etwas besser an als im Televoting, aber in der Summe reichte es eben zu Silber.

Für das Vereinigte Königreich ist das hoffentlich Zeichen genug, dass mit ein wenig Anstrengung, guten Partnern und einem charismatischen Interpreten viel mehr drin ist, als nur die rote Laterne. Daran könnte sich auch Team Deutschland ein Beispiel nehmen und aufhören so kurz zu denken, dass uns niemand mag. Sam Ryder präsentierte sich in Turin von seiner besten Seite, das Staging, die Stimme, alles wirkte rund und er grundsympathisch. Was vor zwei Jahren aus Langeweile in seiner Küche mit TikTok-Videos begonnen hat, bringt dem UK die beste Platzierung seit dem Sieg von Kathrina & The Waves im fernen Jahr 1997 ein! Und wer weiß, vielleicht heißt es im nächsten Jahr, wenn die Ukraine nicht in der Lage sein wird, die Eurovision zu veranstalten, "Manchester calling!"

Etwas enttäuschend dürfte der Abend für Polen verlaufen sein. Krystian Ochman war einer meiner persönlichen Favoriten, doch nicht zuletzt hat man mit einem übereifrigen Staging und wirren Effekten wohl den Song ruiniert, der gar keinen großen Schnickschnack gebraucht hätte. Krystian hätte sich auf seine Stimme verlassen können und die Sache wäre geritzt gewesen. Allerdings hatte er auch ein bisschen Unglück, hinter Australien und dem UK als dritter Mann mit balladeskem Auftritt an den Start gehen zu müssen. Platz zwölf ist für Polen aber sicherlich kein Beinbruch, die letzten Jahre schaffte es unser östlicher Nachbar schließlich nicht mal ins Finale. Allein dies dürfte schon ein Triumph sein und die Grundlage für 2023 bilden.

Theatralik vom Feinsten servierte die serbische Sängerin Konstrakta. Mit einer Schüssel Wasser, ein paar Handtücher reichenden Backings und einem überzeugenden Blick, der tief durch die Kameralinse gedrungen ist, überzeugte Konstrakta das Publikum. Fünfmal gab es von den Zuschauern die Höchstwertung für dieses ganz besondere Musikstück, das durch seine Eigenwilligkeit bestach. So ganz kann ich gar nicht definieren, was es ist, aber die Show zu "In corpore sano" hat selbst mich in seinen Bann gezogen, dessen Tiefgang man auch ohne die Einblendungen auf Englisch verstanden hätte. Serbien belegt Platz fünf und kann seine Interpretin stolz in Empfang nehmen.

Als letzter Starter ging dann Stefan für Estland auf die Bühne. Der Auftritt war ähnlich souverän wie schon im Halbfinale, Sepia-Effekt und die Weite der Prärie führten zu einem ordentlichen Platz 13 und sorgten für einen zünftigen Abschluss des Kandidatenfeldes. Danach gab es dann diverse Schnelldurchläufe und eine Hommage an die große Gigliola Cinquetti, die 1964 mit "Non ho l'età" in Kopenhagen als Teenagerin den ersten italienischen Sieg holte. Das war einer der größten Momente im Rahmenprogramm des Finales, wie schon erwähnt, fand ich die übrigen Showacts eher mäßig.

Kurios war dann noch die zeitweilige Abstinenz von Laura Pausini während des Votings. Hätte sie nicht selbst darauf hingewiesen, als sie plötzlich nach zwei Dritteln der Jurystimmen wieder zwischen Alessandro Cattelan und Mika stand, hätte man denken können, das wäre im Drehbuch so vorgesehen gewesen. Via Instagram erklärte Laura nun selbst: "Während dieses Finales hatte ich einen Blutdruckabfall und musste aus diesem Grund auf Anraten der Ärzte, die mir geholfen haben und denen ich sehr danke, für etwa zwanzig Minuten pausieren." Es seien anstrengende Wochen für sie gewesen, es gehe ihr aber gut und man müsse sich keine Gedanken machen.

Die Moderatoren, allen voran Alessandro Cattelan, muss man zum Schluss auch noch einmal würdigen. Sie haben einen ganz ordentlichen Job gemacht, kein Vergleich zu einer Petra Mede oder Anke Engelke, aber sie haben das italienische Lebensgefühl auf eine humor- und liebevolle Art und Weise über den TV-Schirm transportiert. Mit der Reprise vom Kalush Orchestra endete auch die Saison des Eurovision Song Contests 2022. Zwei arbeitsreiche und spannende Wochen gehen zu Ende und nun richtet sich der Blick schon wieder auf den nächsten Jahrgang. Es wird viel zu klären geben, wer weiß, wo wir uns in einem Jahr wieder zusammenfinden, um den Eurovision Song Contest zu feiern.

Italien hat sich als Gastgeber bemüht, gewiss nicht alles perfekt abgeliefert, aber das hat im Vorfeld des Wettbewerbs wohl auch niemand erwartet. Grazie mille, Italia. Zumindest hat man Toto Cutugno nicht moderieren lassen, bei dem Martin Österdahl sicherlich häufiger hätte einschreiten müssen, als nur bei den drei Jurywertungen. Und doch hätte niemand diesen Wettbewerb, der als Zeichen der Solidarität in die Geschichtsbücher der Eurovision eingehen wird, zusammenfassen können, als Toto Cutugno mit seinem Siegerlied von 1990, "Insieme" ("Zusammen"). Denn das hat der Eurovision Song Contest mit all seinen Interpreten, Teams und Zuschauern wieder einmal gezeigt, der Wettbewerb bringt Europa zusammen!

Laura Pausini eröffnet mit einem Hit-Medley | Die Subwoolfer marschieren ein
Heimspiel für Mahmood und Blanco | Sheldon Riley zeigt Flagge
Krystian Ochman kann auch lächeln | Konstrakta holte überraschend Platz 5
Allgemein wurde die Flag Parade aber sehr unemotional abgehandelt...
Alessandro Cattelan, Laura Pausini und Mika | Tschechien musste das Finale eröffnen
Der ungnädige Startplatz zwei: Rumänien | Maro für Portugal
Lauri und Gitarristin Emilia | Jungs dürfen weinen: Marius Bear
Wurden nur Vorletzte: Frankreich | Rotkäppchen 2.0: Norwegen
Schnappte im Finale zu: Rosa Linn | Verspielten ihren Heimvorteil, die Italiener
Verbog sich für den dritten Platz: Chanel | S10 für die Niederlande
Das Kalush Orchestra | Malik bei seiner Performance zu "Rockstars"
Brillierte auf klassische Art: Monika Liu | Jérémie Makiese für Belgien
Im Wartesaal zum großen Glück: Amanda Tenfjord | Die drei isländischen Schwestern
Lagen im Televoting weit vorn: Zdob si Zdub | Holte Platz vier: Cornelia Jakobs
Sheldon Riley für Australien | Machte das UK wieder stolz: Sam Ryder
Mit jugoslawischen Arbeiterschuhen und Waschschüssel: Konstrakta | Stefan für Estland
PR-Auftritt für die Vorjahressieger | Die großartige Gigliola Cinquetti
Mika durfte auch ein bisschen am Rahmenprogramm mitwirken
Die zwölf Punkte fliegen ein: Team Britannien und Team Griechenland
Feierten sich und Europa: The Rasmus und die norwegischen Subwoolfer
Konnte am Ende wieder lachen: Marius Bear | Chanel und ihre Backings
Konstrakta sammelte auf dem Balkan viele Punkte | Sam Ryder gewann das Juryvoting
Aserbaidschan... | "The Moment of Truth"
Die Sieger des 66. Eurovision Song Contests: Kalush Orchestra mit "Stefania"
Aufnahmen von der Sieger-PK im Anschluss an das Finale