Donnerstag, 21. Mai 2020

Kommentar: Pornostars, Russendisko, Zwergstaaten-Bingo



Europa - Beinahe eine Woche ist es schon wieder her, dass "Europe Shine A Light" als Ersatz für den Eurovision Song Contest 2020 gezeigt wurde und im Laufe der letzten Tage sind mir einige Dinge bewusst geworden. Zu allererst die Tatsache, dass der Wettbewerb fehlt. Noch nie ist er ausgefallen und wie bei so vielen Dingen im Leben merkt man erst, was man an ihnen hat, wenn sie nicht mehr da sind. So ist das auch mit dem Eurovision Song Contest... 

Wird 2021 nicht im Regen
stehen gelassen: Gjon's Tears
41 Beiträge standen fest, zuletzt wurde der russische Titel bekannt gegeben, wenige Tage später wurde der Song Contest durch die EBU gestrichen. Für einige Interpreten bricht oder wird ein Traum zusammenbrechen, ihr Land beim Eurovision Song Contest zu vertreten. Zwar sind 18 Kandidaten schon fix für das nächste Jahr gesetzt, darunter diesjährige Mitfavoriten wie Victoria aus Bulgarien oder Gjon's Tears, andere wissen aber schon jetzt, dass sie, wenn sie wieder zum Song Contest wollen, erneut den Vorentscheid gewinnen müssen.

Uku Suviste, der mit seinem schmalzigen "What love is" für Estland ins Rennen gehen wollte, müsste sich erneut durch den Eesti Laul zittern, auch der finnische Interpret Aksel muss wieder in die nationale Vorauswahl, hat aber schon angekündigt, 2021 wieder eine Bewerbung einzureichen. Beide Titel waren und sind trotz der Phase des Schönhörens nicht wirklich besser geworden. Insbesondere da besonders bei den Finnen immer noch "Cicciolina" im Raum steht, ein Lied, das den Song Contest auf so vielfältige Art und Weise bereichert hätte, im Gegensatz zum introvertierten Aksel Kankaanranta.

Erika Vikman mit "Cicciolina"
beim finnischen Vorentscheid
Ein Lied über eine ehemalige Pornodarstellerin aus Budapest, die in der italienischen Politik Karriere gemacht hat und bis 1992 im Parlament saß, gab es noch nie. Ob Ilona Staller, wie die heute 68jährige heißt, von der finnischen Trashpop-Hymne weiß, ist nicht überliefert. Die Italiener hatten zu jener Zeit ganz andere Sorgen. Allerdings hat man besonders bei Italien gemerkt, dass der Song Contest verbindet. Er fördert das Insieme, über das schon Toto Cutugno 1990 gesungen hat. Dies erfährt man, wenn man sich das Balkonvideo bei Youtube anschaut, in dem in Quarantäne gesteckte Italiener abends den San Remo-Titel "Fai rumore" singen.

Sang "Fai rumore" auch in
der Arena von Verona : Diodato
"Fai rumore" (zu Deutsch "Macht Lärm") könnte kein besseres Lied für diese Zeit sein. Zwar werden immer mehr Maßnahmen und Beschränkungen wieder gelockert, der Titel könnte dennoch nicht bezeichnender sein für das, was viele Eurovisionsfans in den letzten Wochen empfinden, nämlich Schmerz. Die Welt geht durch einen ausgefallenen Song Contest nicht unter, die EBU hat jäh betont, dass es 2021 in Rotterdam weitergehen wird, trotzdem bleibt das Jahr 2020 ohne Sieger und das Jahr einer Symbolveranstaltung, in der alle Künstler kurz einmal ihre "Stay strong"-Message in die Kamera sprechen durften.

Von daher konzentrieren wir uns auf das Jahr 2021, wir haben ein Jahr Zeit, um uns wieder an Kleinigkeiten aufzuregen, Vorentscheide zu kritisieren, zu schimpfen und frenetisch zu jubeln. In 103 Tagen ist der 1. September, ab dann kommt die Saison wieder in Fahrt, ab dann gibt es potentielle Eurovisionsmusik zu hören. Bis dahin werde ich mich der Archivarbeit widmen, ein paar weitere Länder in "Beyond Eurovision" vorstellen und mich an Nachrichten freuen, wie den Plänen von Susanna Georgi, Andorra zur Eurovision zurückzubringen. Auf die Zwergstaaten, die trotz übermächtigen Nationen ihre Chance wahren, möchte ich nicht verzichten.

Packt gern den musikalischen
Mittelfinger aus: San Marino
Leider ist davon über die Jahre hinweg nur San Marino übrig geblieben, Monaco hat sich nach der Pleite von Athen mit tahitianischem Bastrock-Getanze verabschiedet, Andorra wurde nach 2009 nie wieder gesehen und Liechtenstein spuckt im Vorfeld immer große Töne, schafft es dann aber doch nicht Mitglied der EBU zu werden. Insofern wäre die Rückkehr des Pyrenäenlandes doch eine schöne Idee, vor allem weil es durchaus Beiträge gab, die okay oder besser waren. Die Band Anonymous hätte sich nach dem heute geltenden Prinzip der zwei Halbfinals sicherlich für das Finale qualifizieren können und auch "La teva decisió" war nicht so schlecht, wie es im Abschlussranking gelistet wurde.

Es bleibt also spannend, ob und welche Nationen wieder ins Boot geholt werden können. Ob Montenegros Fernsehsender nach der Anschaffung von neuen Firmenautos wieder Geld für den Song Contest übrig hat, das ungarische Fernsehen seine unerfindliche Schmollphase überwunden hat oder das bosnische Fernsehen endlich seine Schuld bei der EBU beglichen hat. Außerdem wird es sicherlich nicht bei den 18 Interpreten bleiben, die 2021 eine zweite Chance erhalten. Ich favorisiere ja die russische Band Little Big. Wenn sich Channel One und RTR selbst bei Julia Samoylova einig wurden, dann dürfte die Nominierung der Band nur Formsache sein.

Eine Empfehlung meinerseits:
"Hypnodancer" von Little Big
Little Big haben übrigens vor zwei Wochen die "Uno"-Folgesingle veröffentlicht. "Hypnodancer" lebt, wie auch schon ihr Eurovisionsbeitrag, durch das Musikvideo. Bevor es Gemunkel gab, sie würden zum Song Contest fahren, war ich zunächst skeptisch, nunmehr liebe ich die Gruppe. Und genau so ein Effekt stellte sich bei vielen Beiträgen und Kandidaten ein. Den größten Glow Up hatte bei mir Kroatien, "Divlji vjetre" von Damir Kedžo ist mit Sicherheit keine Neuerfindung der Ballade, aber ein wunderschönes Lied klassischer Bauart, wie sie schon in den 90ern für Kroatien an den Start gingen. Die Mischung aus angestaubten Liedern und modernen Musikstilen machen die Würze des Song Contests aus.

Diesbezüglich kann ich mich sogar mit "Kemama" anfreunden, weil es eine neue Klangfarbe zum Song Contest gebracht hätte oder die ironisch-witzigen Titel aus Litauen und Island, die ja laut europaweiten Rankingshows überall gut ankamen. Beide Länder hätten womöglich um den ersten Song Contest-Sieg ihrer Geschichte gepokert, daraus ist nichts geworden, kann aber noch werden. 2021 bietet für jedes Land neue Chancen, auch für Deutschland. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich Ben Dolic gemessen an seiner Sangesleistung im deutschen Finale, im nächsten Jahr noch mal sehen möchte. Aber das liegt beim NDR, wir sind und bleiben gespannt.


4:35 Minuten feinste Unterhaltung: "Hypnodancer"