Donnerstag, 14. Mai 2020

Euronight: Der Jahrgang 2020 lebt trotzdem



Europa - "Der verlorene Jahrgang" - das ist nun kein Synonym mehr für den Eurovision Song Contest 1964, dessen Videoaufzeichnungen bei einem Brand im Archiv des dänischen Fernsehens abhanden gekommen sind oder für 1956, als man schlichtweg darauf verzichtete, den Wettbewerb aufzuzeichnen, weil man nicht damit rechnen konnte, dass sich das Fernsehen in Windeseile zu einem gigantischen Medium ausbreiten wird, sondern für 2020. Das Jahr, in dem der Eurovision Song Contest aufgrund eines unsichtbaren Gegners auf Eis gelegt werden musste. 

Ich erinnere mich an das Video von Jon Ola Sand, der mit betretener Miene im Garten des EBU-Hauptgebäudes stand und die Absage von "Rotterdam 2020" verkünden musste. Gleichzeitig stellt die Absage des Wettbewerbs das abrupte Ende der Ära von Jon Ola Sand als Executive Supervisor des Song Contests dar. Einen unrühmlicheren Abgang hätte es für den Norweger, der nunmehr wieder zu seinem Heimatsender NRK zurückkehrt, nicht geben können. Es wird kein Zusammenschnitt seiner unzähligen "Take it away"-Phrasen gezeigt, er verabschiedet sich still aus dem Kreis der Eurovision. 

Die drei magischen Worte:
"Ich liebe dich!" "Take it away!"
Zumindest für den "gewöhnlichen" Zuschauer, der sich 3,5 Stunden berieseln lässt, über Blockvoting schimpft und/oder über die Qualität der Beiträge herzieht. Wer sich ganzjährig im Mikrokosmos der Eurovision aufhält, für den ist Jon Ola Sand mehr als ein lustig klingender nordischer Name, er war von 2011 bis 2020 das Gesicht der Maschinerie Eurovision, der Mann bei dem alle Fäden eines Wettbewerbs zusammenlaufen. Nach dem Wettbewerb von Oslo hat das Erbe von Svante Stockselius angetreten und die Marke "Eurovision" weiterentwickelt. 

In einem Frage-Antwort-Video der Europäischen Rundfunkunion spricht er über verschiedene Stadien seiner Karriere beim Wettbewerb, die Arbeit hinter den Kulissen, die Zusammenarbeit mit Teams aus unterschiedlichen Kulturbereichen und die Entwicklung des Wertungsschemas, auf das er besonders stolz ist. Nach mehreren Tests hat sich nun ein Konzept entwickelt, bei dem der Sieger außer für Mathematik-Nerds bis zuletzt nicht ersichtlich ist.

"Ask Jon Ola Sand"

2004, eine der zähesten Punkte-
vergaben in der Geschichte
Auch wenn Entscheidungen der Europäischen Rundfunkunion manchmal auf den ersten Blick abstrus oder einfach nur blöd erscheinen, wie für mich dereinst die Abschaffung des Vorlesens jeden einzelnen Punktes, so hat es die Eurovision doch voran gebracht. Für den einmaligen Zuschauer ist es zu langatmig, sich die Punkte von eins bis zehn aus Litauen, San Marino, Moldawien und Portugal anzuhören. Den Hardcore-Fan betrübt die Verkürzung nur, weil es Tradition hatte. Aber welcher Fan hätte heute noch Lust sich eine elendig lange Punktevergabe wie in den Jahren 2004 oder 2005 tatsächlich in voller Länge anzuschauen?

Für die Fans, bei denen der Eurovision Song Contest allen anderen Feiertagen vorangestellt ist, dürfte die Absage von Rotterdam wie ein Stich ins Herz sein. Aus diesem Grund haben sich neue Möglichkeiten aufgetan, ihm zu huldigen und irgendwie die klaffende Lücke im Monat Mai zu füllen. Es fanden bereits mehrere Home Concerts verschiedener Song Contest-Teilnehmer statt, die in den Wohnzimmern der Interpreten aufgezeichnet wurden und teilweise großartige Gesangsleistungen an den Tag legten. Es gab hierzulande die Songchecks und in vielen anderen Ländern alternative Preview- bzw. Wertungsshows, aus denen meist Island und Litauen als Sieger hervorgingen.

In Anlehnung an Facebooks
neuen Reaction-Emoji
Bei Youtube gab es auf dem Kanal der Eurovision mit der Unterstützung von BBC und RTÉ u.a. für kurze Zeit alte Jahrgänge (1997 und 1998) in voller Länge zu sehen. Diese wurden vom britischen und irischen Fernsehen zur Verfügung gestellt, da die EBU an diesen Shows keine Ausstrahlungsrechte besitzt, sondern die jeweiligen Sender. So hat man sich online zum kollektiven Nostalgie-Gucken verabredet und sich in den sozialen Medien über Beiträge ausgetauscht, die schon über 20 Jahre zurückliegen. Ist das nicht auch eine schöne Geste um den Eurovisionsfans Kurzweil zu bieten? Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.

Die Wohnzimmer-Konzerte hätte es ohne Corona-Pandemie nie gegeben, stattdessen hätten Preview-Events wie "Eurovision in Concert" stattgefunden. Durch das Internet hatten viel mehr Fans die Möglichkeit dabei zu sein, wenngleich nicht live vor Ort sondern vor dem PC, Laptop, Tablet. Und wie Pilger in Santiago kamen Freunde der Eurovision zusammen, was dem Geist der europäischen Einigung entspricht, den die Gründer des Wettbewerbs 1956 beabsichtigten. Das Internet schafft in Zeiten von Kontaktsperren und Social Distancing die Möglichkeit, die Eurovision gemeinsam zu erleben. 

Hätte mit diesem Kleid große
Chancen auf den Barbara-Dex-
Award: Roxen
Zwar werden wir nie erfahren, welche Beiträge ins Finale gekommen wären, wer das Dark Horse oder der Sieger des Barbara Dex-Awards geworden wäre, Europa kam und kommt im Jahr 2020 aber auf andere Art und Weise zusammen. Dafür gibt es am Samstag auch noch "Europe Shine A Light", das die 41 Beiträge zwar nur rudimentär wiedergibt, dafür immerhin von 46 verschiedenen Rundfunkanstalten gezeigt wird, mehr noch als überhaupt in Rotterdam teilgenommen hätten. Selbst Bosnien-Herzegowina mit seinem ruinösen staatlichen Rundfunk ist angeschlossen, ein schönes Zeichen.

Der streitbare Stefan Raab hat mit seinem Free European Song Contest keine Konkurrenz sondern eine Ergänzung geschaffen. Natürlich ist es unglücklich, dass das Erste und ProSieben sich die gleichen Sendeplätze für verschiedene Musikwettbewerbe teilen müssen, der Grundgedanke eine Alternative zu stellen, muss beiden Sendern dennoch hoch angerechnet werden. In der ARD erfahren wir sehr wahrscheinlich, ob Ben Dolic im nächsten Jahr eine Chance erhält und welcher der zehn Finalisten vom "World Wide Wohnzimmer" der Favorit der Deutschen ist, auf ProSieben bekommen wir 15 Auftritte mit europäischem Charakter in Song Contest-Manier dargeboten.

Diese Szene hätte es ohne
Raab 2010 nie gegeben
Woran das Interesse größer sein wird, wissen wir nach Ermittlung der Einschaltquoten am Sonntag, der Free European Song Contest darf jedenfalls als eine Show von einem Fan für Fans verstanden werden. Schließlich hat sich Raab in all den Jahren, als er noch aktiv vor der Kamera mitwirkte, um die Eurovision in Deutschland verdient gemacht. Er ist ein Charakter den man hasst oder liebt, aber er hat eine Leidenschaft für Europas größten Musikwettbewerb, von daher sei es ihm doch gestattet, wenn er seine Passion in diesem neuen Contest manifestiert. Und da wir nicht mehr im Zeitalter von Schwarz-Weiß-Fernsehen leben, haben wir durch Aufnahmefunktionen die Möglichkeit uns beide Formate anzusehen.

Für mich steht seit heute fest, dass ich trotz fehlendem Urlaub in der heiligsten Woche des Jahres am Samstag frei habe und mir beide Shows anschauen kann. Ich freue mich sowohl auf "Europe Shine A Light" und das Vorprogramm aus der Elbphilharmonie wie auch auf den raab'schen Wettbewerb. Verschwenden wir also keine Gedanken mehr daran, ob Stefania aus Griechenland in Rotterdam wie im Musikvideo zu "Superg!rl" begonnen hätte zu schweben oder Uku Suviste in einem Meer aus Teelichtern gestanden hätte, sondern freuen wir uns auf Samstag und die vielen kleinen Gimmicks, die die Kandidaten und TV-Sender uns zur Verfügung stellen, etwa das heute veröffentlichte 20th Anniversary-Video von Nicki French.

Nicki French - Don't play that song again