

Ich erinnere mich an das Video von Jon Ola Sand, der mit betretener Miene im Garten des EBU-Hauptgebäudes stand und die Absage von "Rotterdam 2020" verkünden musste. Gleichzeitig stellt die Absage des Wettbewerbs das abrupte Ende der Ära von Jon Ola Sand als Executive Supervisor des Song Contests dar. Einen unrühmlicheren Abgang hätte es für den Norweger, der nunmehr wieder zu seinem Heimatsender NRK zurückkehrt, nicht geben können. Es wird kein Zusammenschnitt seiner unzähligen "Take it away"-Phrasen gezeigt, er verabschiedet sich still aus dem Kreis der Eurovision.
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Die drei magischen Worte: |
In einem Frage-Antwort-Video der Europäischen Rundfunkunion spricht er über verschiedene Stadien seiner Karriere beim Wettbewerb, die Arbeit hinter den Kulissen, die Zusammenarbeit mit Teams aus unterschiedlichen Kulturbereichen und die Entwicklung des Wertungsschemas, auf das er besonders stolz ist. Nach mehreren Tests hat sich nun ein Konzept entwickelt, bei dem der Sieger außer für Mathematik-Nerds bis zuletzt nicht ersichtlich ist.
"Ask Jon Ola Sand"
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2004, eine der zähesten Punkte- vergaben in der Geschichte |
Für die Fans, bei denen der Eurovision Song Contest allen anderen Feiertagen vorangestellt ist, dürfte die Absage von Rotterdam wie ein Stich ins Herz sein. Aus diesem Grund haben sich neue Möglichkeiten aufgetan, ihm zu huldigen und irgendwie die klaffende Lücke im Monat Mai zu füllen. Es fanden bereits mehrere Home Concerts verschiedener Song Contest-Teilnehmer statt, die in den Wohnzimmern der Interpreten aufgezeichnet wurden und teilweise großartige Gesangsleistungen an den Tag legten. Es gab hierzulande die Songchecks und in vielen anderen Ländern alternative Preview- bzw. Wertungsshows, aus denen meist Island und Litauen als Sieger hervorgingen.
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In Anlehnung an Facebooks neuen Reaction-Emoji |
Die Wohnzimmer-Konzerte hätte es ohne Corona-Pandemie nie gegeben, stattdessen hätten Preview-Events wie "Eurovision in Concert" stattgefunden. Durch das Internet hatten viel mehr Fans die Möglichkeit dabei zu sein, wenngleich nicht live vor Ort sondern vor dem PC, Laptop, Tablet. Und wie Pilger in Santiago kamen Freunde der Eurovision zusammen, was dem Geist der europäischen Einigung entspricht, den die Gründer des Wettbewerbs 1956 beabsichtigten. Das Internet schafft in Zeiten von Kontaktsperren und Social Distancing die Möglichkeit, die Eurovision gemeinsam zu erleben.
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Hätte mit diesem Kleid große Chancen auf den Barbara-Dex- Award: Roxen |
Der streitbare Stefan Raab hat mit seinem Free European Song Contest keine Konkurrenz sondern eine Ergänzung geschaffen. Natürlich ist es unglücklich, dass das Erste und ProSieben sich die gleichen Sendeplätze für verschiedene Musikwettbewerbe teilen müssen, der Grundgedanke eine Alternative zu stellen, muss beiden Sendern dennoch hoch angerechnet werden. In der ARD erfahren wir sehr wahrscheinlich, ob Ben Dolic im nächsten Jahr eine Chance erhält und welcher der zehn Finalisten vom "World Wide Wohnzimmer" der Favorit der Deutschen ist, auf ProSieben bekommen wir 15 Auftritte mit europäischem Charakter in Song Contest-Manier dargeboten.
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Diese Szene hätte es ohne Raab 2010 nie gegeben |
Für mich steht seit heute fest, dass ich trotz fehlendem Urlaub in der heiligsten Woche des Jahres am Samstag frei habe und mir beide Shows anschauen kann. Ich freue mich sowohl auf "Europe Shine A Light" und das Vorprogramm aus der Elbphilharmonie wie auch auf den raab'schen Wettbewerb. Verschwenden wir also keine Gedanken mehr daran, ob Stefania aus Griechenland in Rotterdam wie im Musikvideo zu "Superg!rl" begonnen hätte zu schweben oder Uku Suviste in einem Meer aus Teelichtern gestanden hätte, sondern freuen wir uns auf Samstag und die vielen kleinen Gimmicks, die die Kandidaten und TV-Sender uns zur Verfügung stellen, etwa das heute veröffentlichte 20th Anniversary-Video von Nicki French.
Nicki French - Don't play that song again