Montag, 15. Oktober 2018

Memories: Eurovision Song Contest 1975


Schweden - ABBA hatten es mit "Waterloo" geschafft und den Eurovision Song Contest für die kommenden Jahre und Dekaden musikalisch nachhaltig zu verändern. Der Wettbewerb sollte auf seiner Reise durch Westeuropa am 22. März 1975 erstmals in Stockholm Halt machen und von Sveriges Radio (SR) ausgerichtet werden. Doch wer glaubte, der Wettbewerb 1975 war von der typischen Perfektion und Leichtigkeit der heutigen Generation geprägt, der irrte. In Stockholm hab es zu bisher nicht dagewesenen Sicherheitsvorkehrungen.

Nicht nur die erneute Teilnahme Israels sorgten für Geleitschutz vom Flughafen in die Herbergen der Künstler, auch die deutsche Delegation wurde besonders geschützt, da sich ein angeblicher Jürgen Marcus-Fan (der im Vorentscheid den Kürzeren zog) telefonisch Morddrohungen aussprach. Auch die RAF plante angeblich einen Anschlag auf das Treffen von Musikbarden aus ganz Europa, tatsächlich kam es vier Wochen nach der Eurovision in der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm zu einem Anschlag. Hinzu kam, das der Zorn vieler im damals sehr linksausgerichteten Schweden gegen den Kommerz, den die Eurovision mit sich brachte, in offenem Protest mündete.

So wurde parallel zur Eurovision ein Alternativfestivalen in einem Außenbezirk Stockholms veranstaltet, wer wollte, konnte dort auftreten. Man beklagte, Sveriges Radio würde seinen Etat für internationale Popmusik ausgeben und dabei die lokale Kultur nicht ausreichend fördern. Die Proteste rissen auch nach dem Song Contest nicht ab, sodass sich SR schließlich im Herbst 1975 gezwungen sah, sich von der Eurovision zurückzuziehen, offiziell weil die Ausrichtung des Wettbewerbs zu teuer war. Zunächst aber sollte Karin Falck aus der Stockholmsmässan moderieren und erstmals 19 Nationen ankündigen.

Neben Frankreich, das nach einjähriger Pause wieder dabei war, wollte auch Malta wieder mitsingen, diesmal in seiner zweiten Amtssprache Englisch, nachdem zwei Lieder auf Maltesisch nicht aus dem Quark kamen. Erstmals dabei war zudem die Türkei, was nach der Besetzung des Nordteils der Insel Zypern im Sommer 1974, die Absage des griechischen Fernsehens zur Folge hatte. Zwar wurde der Wettbewerb in Griechenland übertragen, der politische Konflikt um Zypern ist allerdings bis heute ungeklärt und es sollte noch fast 30 Jahre dauern, ehe sich Griechen und Türken erstmals beim Song Contest mit Punkten bedachten.

Eröffnet wurde der Eurovision Song Contest auch sogleich von seinen späteren Gewinnern, den Niederlanden und der Gruppe Teach-In. John Gaasbeek, Chris de Wolde, Ard Weeink, Koos Versteeg, Rudi Nijhuis und die österreichische Sängerin Getty Kaspers sprangen melodiös auf den fahrenden ABBA-Zug auf. Ihr "Ding-a-dong", klingt mit 40 Jahren Abstand, wie ein seichter Abklatsch des Gewinnerliedes von 1974. Immerhin gab es sechsmal die Höchstwertung der abstimmenden Juroren und aus allen teilnehmenden Nationen Punkte. 1976 verließ Kaspers die Gruppe, zu Revival-Auftritten kommen die Bandmitglieder aber heute noch zusammen. Aus Österreich konnte es in diesem Jahr wieder keine Punkte geben, da der ORF aufgrund zu kurzer Vorbereitungszeit erneut absagen musste.

Das Wertungssystem wurde aufgrund von Protesten zahlreicher Rundfunkanstalten komplett umgekrempelt, das klassische Format, wie wir es bis 2015 kannten, kam zum Einsatz. Insgesamt durften die jeweiligen Juroren zehn Lieder bewerten, von einem bis acht Punkte sowie zehn und zwölf Zähler. Der deutsche Kommentator Werner Veigel erklärte damals auch, dass es keine neun und elf Punkte gäbe, damit der Sieger nicht mit einem durchschnittlichen Ergebnis den Wettbewerb gewinnt. Bis zum Splitten in Jury- und Televoting 2016 sollte dieses Konzept nun Teil des Eurovision Song Contests werden.

Allerdings gab es auch anfängliche Stolpersteine. So musste die Moderatorin Karin Falck nachhaken: "How much is seven in French?" Die Punkte wurden dabei in der Reihenfolge der Auftritte vorgelesen und nicht in ihrer Wertigkeit steigend. In den Genuss zwölf Punkte zu erhalten kam die deutsche Kandidatin Joy Fleming leider nicht, 15 Zähler insgesamt, davon acht aus Luxemburg, waren das Ergebnis ihres wuchtigen Auftritts, der offenbar mit viel zu viel garniert wurde. Joy, geboren als Erna Liebenow in Rockenhausen im Donnersbergkreis/Rheinland Pfalz, machte ihrem Geburtsort alle Ehre und rockte die Bühne in Stockholm wie keine Zweite an diesem Abend, fand nur leider kein Gehör.

Das bedeutungsschwangere "Ein Lied kann eine Brücke sein" erwies sich als modernste Nummer des Abends, dargeboten von einer großen jazzigen Stimme, die sich nicht zu schade war, aus den Vollen ihrer Stimmbänder zu schöpfen und dabei sogar noch den Schlussakkord auf Englisch zu singen um sich international verständlich zu machen. Das Drumherum mit dem "Raketen", wie Joy ihre Backgroundsängerinnen selbst betitelte und sie in einem sackartigen beißend grünen Kleid gegen das sie selbst unerfolgreich protestierte, sowie mit Ketten und Schmuck behangen, wirkte allerdings viel zu überladen, sodass es für Joy nur den 17. Platz von Stockholm, dafür aber einen Platz in der Hall of Fame deutscher Grand Prix-Beiträge gab.

Joy Fleming versuchte es 1986, 2001 und 2002 in verschiedenen Kombinationen mit anderen Künstlern und Bands noch mehrfach beim Vorentscheid, war 2004 sogar Teil der Expertenjury, die in Stefan Raabs Miniformat "SSDSGPS" nach Max Mutzke fahndete und gern gesehener Gast bei deutschen Eurovisionsformaten. Am 27. September 2017 verstarb Joy Fleming im Alter von 72 Jahren. Beim deutschen Vorentscheid 1975, wo ihre Performance weit weniger ausladend wirkte, duellierten sich zuvor die Größen der deutschen Musikszene. 

15 Interpreten nahmen an der vom Hessischen Rundfunk durchgeführten Vorentscheidung in Frankfurt am Main, moderiert von Karin Tietze-Ludwig teil, etwa oben erwähnter Jürgen Marcus mit "Ein Lied zieht in die Welt hinaus" oder Marianne Rosenberg mit ihrem Hit "Er gehört zu mir". Die beiden belegten in der von Regionaljurys bewerteten Sendung aber nur den 9. bzw. 10. Platz. Am ehesten hätte die Sängerin Peggy March mit dem Lied "Alles geht vorüber" aus der Feder von Ralph Siegel den Titel streitig machen können, am Ende fehlten der gebürtigen Amerikanerin allerdings sechs Punkte.

Zu den ebenfalls erfolglosen Nationen gesellte sich die Türkei mit ihrer Sängerin Semiha Yanki, die gerade einmal drei Punkte beim Einstand ihres Landes verzeichnen konnte. "Seninle bir dakika" ("Eine Minute mit dir") kam überhaupt erst nur zum Song Contest, nachdem sie Losglück beim Vorentscheid hatte, lag Semiha doch gleichauf mit der Mädchenband Cici Kızlar. Zu allem Überfluss dauerte es dann auch noch lange bis das Tableu die drei Punkte der monegassischen Jury anzeigte, Karin Falck bangte schon, dass man die Punkte auf einem Blatt Papier niederschreiben müsste, unter großem Applaus tauchten diese dann aber noch auf dem Scoreboard auf.

Geringfügig besser lief es für die Norwegerin Ellen Nikolaysen, die man bereits von den Bendik Singers kannte. Ihr "Touch my life with summer" war nur magere elf Punkte wert. Bis auf eine Bewerbung beim norwegischen Vorentscheid blieb es ihr letzter Auftritt bei der Eurovision, sie widmete sich nun verstärkt dem Schauspiel. Für die Gastgeber aus Schweden lief es etwas besser, Lasse Berghagen und seine Band The Dolls brachten den achten Platz zustande. Der Ex-Mann von Lill-Babs hatte sich bereits in den beiden Jahren zuvor vergeblich beim Vorentscheid beworben. Zwischen 1994 und 2003 moderierte er das beliebte Sommerfestival Allsång på Skansen in Schweden.

Nicht nur der Schwede, auch andere Interpreten sangen auf Englisch oder auf einer halbgaren Mischung aus Landessprache und Englisch. So übersetzte z.B. auch die belgische Sängerin Ann Christy ihren Titel "Gelukkig zijn" teilweise ins Englische. Der erfolgreichste englischsprachige Titel, abgesehen von den niederländischen Siegern kam allerdings aus Großbritannien selbst. Während sie 1973 noch als Begleitband von Cliff Richard auftraten, durften The Shadows nun selbst ran und konnten mit dem Lied "Let me be the one", das zum Mitklatschen hätte einladen können, den obligatorisch zweiten Platz.

Platz drei an diesem Abend ging nach Italien. Das Duo Wess & Dori Ghezzi wagte sich im Refrain von "Era" ("Es war") an die Thematik sonntags in einer dunklen Ecke im Kino rumzuknutschen und verzauberte mit ein wenig Funk die Juroren als letzte Starter des Abends. Beide hatten bereits zuvor am San Remo-Festival teilgenommen. Wess alias Wesley Johnson verstarb 2009 in seiner Heimat, den USA. 

Zwei Plätze hinter Italien platzierte sich Luxemburg. Die Sängerin Géraldine Branagan, eigentlich gebürtige Irin, hatte 1973 in ihrer Heimat vergebens versucht zur Eurovision zu kommen, nun durfte sie auf Einladung des Senders RTL antreten. Ihr Lied "Toi" wurde von Bill Martin komponiert, der schon bei "Puppet on a string" und "Congratulations" seine Finger im Spiel hatte. Mangelnde Französischkenntnisse und eine beileibe dünne Stimme ließen sie aber nur Fünfte werden.

Die beiden anderen französischsprachigen Titel landeten auf den Plätzen drei und 13. Nicole Rieu wurde intern nominiert und sang ihre Ballade "Et bonjour à toi, l’artiste" über die Freuden die Künstler mit ihren Werken bereiten ähnlich inbrünstig wie die monegassische Sängerin Sophie ihr "Une chanson c’est une lettre" ("Ein Lied, das ist ein Brief"). Sophie alias Arlette Hecquet machte erste Bühnenerfahrungen bei Johnny Hallyday und war als Hörfunkmoderatorin bei Radio Monte Carlo tätig, für das sie eben auch beim Eurovision Song Contest auftrat. In den 80er Jahren bekleidete sie bei RTL in Luxemburg das zauberhafte Amt der Programmansagerin, 2012 verstarb sie in Paris.

Für ihre Verhältnisse sehr gut schnitten indes die Finnen ab. Die Folkband Pihasoittajat kombinierte in ihrem Lied "Old Man Fiddle" Country mit nikotinfarbenen Obertrikotagen und kassierte zwei Höchstwertungen, darunter auch die der bundesdeutschen Jury und erreichte Platz sieben, was bis heute eines der besten Ergebnisse des Landes darstellt. Eine Position darüber platzierte sich Simone Drexel aus St. Gallen, die zuvor einen Talentwettbewerb der Bravo gewinnen konnte und trotz ihres sechsten Platzes mit einem Lied über einen alten Mann und sein Mikado-Spiel erfolgreich war, einen bürgerlichen Beruf ergriff und später medizinische Assistentin wurde.

Mit Pauken und Trompeten wollte sich Malta nach zweijähriger Pause zurückmelden. Nachdem man zweimal auf Maltesisch baden ging, sollte nun die englische Sprache für den gewünschten Erfolg sorgen. Allerdings machte es der Mitklatschschlager "Singing this song" von Renato Micallef und seine wenig kleidsame, blau-silbrig schimmernde Überwurfgardine mit Fransen den Juroren nicht leicht. Der zwölfte Platz läutete bis 1991 das Ende der maltesischen Song Contest-Bestrebungen ein. Zwar fand im Jahr darauf noch ein Vorentscheid statt, den Enzo Guzman abermals gewinnen konnte, das maltesische Fernsehen war aber offenbar mucksch, sodass auch "Sing your song country boy" nicht zur Eurovision durfte.

Unter "Ferner liefen" traten noch die Brüder Tommy und Jimmy Swarbrigg für Irland an. Als The Swarbriggs wurden sie intern von RTÉ nominiert und sangen "That's what friends are for", den ersten ihrer beiden Eurovisionsbeiträge, sollten sie doch zwei Jahre später als The Swarbriggs Plus Two noch einmal zurückkehren. In Stockholm reichte es zunächst nur für den neunten Platz. 

Weniger erfolgreich aber dafür mit einem niemals wiederholten Triple trat der ehemalige Marineoffizier Duarte Mendes für Portugal an. Er startete als 16. und belegte mit seinem Lied über die Nelkenrevolution den 16. Platz mit 16 Punkten. Angeblich hätte er am liebsten in einer Armeeuniform und einem Gewehr auftreten wollen, diese Idee verwarfen die Portugiesen aber schnell wieder. Die Nachbarn aus Spanien schickten das baskische Duo Sergio y Estíbaliz nach Stockholm, beide waren Gründungsmitglieder von Mocedades. Sie machten sich aber 1972 selbstständig und wurden intern von TVE nominiert. Nach dem zehnten Platz wurde noch im gleichen Jahr geheiratet.

Der Sieg ging allerdings an die Niederlande, es sollte der vierte und bis heute letzte Sieg der Niederlande werden und Getty Kaspers die Schamesröte ins Gesicht treiben, als man ihr mitteilte, was der Ausdruck "And you walk along with your ding-dang-dong" im Englisch ebenfalls bedeuten könne. Die Belanglosigkeit des Textes führte zu Diskussionen, u.a. in deutschen Schmierblättern über die Qualität des Wettbewerbs. Beschweren konnte man sich über mangelnde Quoten dennoch nicht, die EBU berichtete, dass der Wettbewerb neben den Teilnehmerländern auch in Island, Marokko, Jordanien, Hongkong, Südkorea und Japan zeitversetzt ausgestrahlt wurde.

Hinzu kam, dass Sveriges Radio ein Novum lieferte, an dem sich spätere Rundfunkanstalten noch orientieren würden. Erstmals kam es dazu, dass die Interpreten des Wettbewerbs Teil der Postkartenfilmchen vor den jeweiligen Beiträgen mitspielten und kleine Rollen hatten. Dieses Format ist neben schönen Landschaftsaufnahmen und Tourismuswerbung zur Tradition beim Eurovision Song Contest geworden. Im Jahr darauf sollte es zum dritten Mal in die Niederlande gehen, zum Eurovisie Songfestival nach Den Haag.

Die Teilnehmer:
01. - 152 -  Teach-In - Ding-a-dong
02. - 128 -  The Shadows - Let me be the one
03. - 115 -  Wess & Dori Ghezzi - Era
04. - 091  Nicole Rieu - Et bonjour à toi l'artiste
05. - 084 -  Geraldine - Toi
06. - 077  Simone Drexel - Mikado
07. - 074 -  Pihasoittajat - Old Man Fiddle
08. - 072  Lars Bernhagen & The Dolls - Jennie, Jennie
09. - 068  The Swarbriggs - That's what friends are for
10. - 053 -  Sergio & Estíbaliz - Tú volverás
11. - 040 -  Shlomo Artzi - At va'ani
12. - 032 -  Renato - Singing this song
13. - 022 -  Pepel in Kri - Dan ljubezni
13. - 022 -  Sophie - Une chanson c'est une lettre
15. - 017 -  Ann Christy - Gelukkig zijn
16. - 016 -  Duarte Mendes - Madrugada
17. - 015  Joy Fleming - Ein Lied kann eine Brücke sein
18. - 011 -  Ellen Nikolaysen - Touch my life with summer
19. - 003 -  Semiha Yanki - Seninle bir dakika