Mittwoch, 10. Mai 2023

Türkei: 20 Jahre nach Sertab Erener


Türkei
- Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Eurovision Song Contest schon immer politisch bis ins Mark war, obwohl die Europäische Rundfunkunion über jeden Zweifel erhaben ist und betont, die Veranstaltung sei nichts weiter, als ein fröhliches Miteinander europäischer Länder. Kaum eine Veranstaltung spiegelt die politischen Entwicklungen besser wieder, als ein Wettbewerb, bei dem sich weit über 30 Länder gegenseitig bewerten und Länder, die hinterrücks ein anderes Land überfallen oder deren öffentlich-rechtlicher Rundfunk sich demokratischen Standards verweigert, ausgeschlossen werden.

So griff man nach Jahren der Toleranz durch und siebte erst Belarus und nach dem Angriff auf die Ukraine auch Russland (nach dem Protest mehrerer Rundfunkanstalten) aus dem Teilnehmerfeld aus. Politische Elemente reichen aber noch viel weiter zurück, etwa der gegenseitige Boykott von Griechenland und der Türkei in den 70er und 80er Jahren. Bis 2003 vergab Zypern aufgrund schwelender Konflikte etwa keinen einzigen Punkt an die Türkei, noch heute strafen sich Armenien und Aserbaidschan mit gegenseitiger Ignoranz. Anlässlich des 20jährigen Jubiläums von Sertab Erener, die 2003 in Riga siegte, wachen nun auch wieder Lokalzeitungen auf.

So heißt es etwa in einem Bericht der Stuttgarter Zeitung, aber auch beim Deutschlandfunk und dem SRF, dass sich über 95% der Türken eine Rückkehr zum Eurovision Song Contest wünschen. Als Quelle wird eine Studie der Global Academy genannt, in der 95,6% der Türken sich entgegen der Meinung von Regierung und den, durch die politischen Führer besetzten Gremien beim Staatssender TRT, für eine Rückkehr aussprechen. Man habe einst gemeinsam mit Europa gefeiert und sei seit nunmehr zehn Jahren in die musikalische und politische Isolation gerückt, werden mehrere Befragte zitiert. Tatsächlich fand die letzte türkische Teilnahme 2012 in Baku statt.

Der damalige Generaldirektor des Senders TRT, İbrahim Eren, betonte damals, die Bevorzugung der Big Five und die Wiedereinführung der Juroren sei inakzeptabel, spätestens nach dem Sieg von Conchita Wurst sei der spürbare "Werteverfall" beim Eurovision Song Contest ein weiterer Grund für das Fernbleiben der Türkei beim Wettbewerb. İbrahim Eren, dem u.a. die Wiedereinführung von TRT 2 als Kultursender zu verdanken ist und der sich offensichtlich nicht mit Supervisor Jon Ola Sand verstand, wurde 2021 von Mehmet Zahid Sobacı als Generaldirektor abgelöst. 

Nun sind inzwischen weder Eren noch Jon Ola Sand in ihren damaligen Funktionen aktiv und der türkische Sender signalisierte 2021 Gesprächsbereitschaft mit dem neuen Supervisor Martin Österdahl. In diesem Jahr wurde das Juryvoting in den Halbfinals abgeschafft. Passiert ist seither nichts und dennoch mehren sich in der Türkei die Forderungen, nach einer Rückkehr zum Eurovision Song Contest. Die Zukunft des Landes bei der Eurovision hängt auch von den politischen Weichenstellern ab. Für die meisten Experten steht fest, dass eine Rückkehr unter Präsident Erdoğan nicht infrage kommt. Am Sonntag wird in der Türkei gewählt.

Ein Oppositionsbündnis mehrerer Parteien unter der Führung von Kemal Kılıçdaroğlu möchte den Kurs der türkischen Regierung korrigieren und steht, zumindest im Wahlkampf, für eine Rückkehr zum parlamentarischen Regierungssystem sowie für engere Beziehungen zur Europäischen Union. Einer seiner Anhänger, der ehemalige AKP-Politiker Ali Babacan thematisierte gar den Eurovision Song Contest für den Wahlkampf: "Wie Sertab Erener in ihrem Song "Everyway that I can" sagte: Wir werden alles tun, was wir können, um wieder an dem Eurovision Song Contest teilnehmen zu können".

Man wolle die Türkei wieder zurück auf die europäische Bühne bringen, "Schon viel zu lange sind wir bei der Eurovision nicht mehr dabei.", heißt es. Nun wird man alleine mit der Eurovision keine Wahl gewinnen, aber zumindest ist es gut zu wissen, dass der Gedanke an den Wettbewerb in der Türkei noch nicht ganz verloren gegangen ist und sich viele Menschen gerne an den 24. Mai 2003 erinnern, als Sertab Erener in Riga den Sieg davontrug. Viele wünschen sich, dass sie nicht nur am Rand sondern aktiv mitfiebern können. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Wunsch für die Türkei alsbald erfüllt.