Freitag, 12. Mai 2023

Eurovision 2023: Rückblick auf das zweite Halbfinale


Vereinigtes Königreich
- Schon liegen wieder beide Halbfinals des Eurovision Song Contests hinter uns, die Vorbereitungen für die große Endrunde morgen Abend laufen in Liverpool auf Hochtouren und so langsam lichtet sich auch die Katerstimmung bei den Delegationen, die gestern angetreten sind, sei es nun aus Enttäuschung oder Freude darüber, (nicht) im Finale vertreten zu sein. Diese Entscheidung wurde gestern wieder zu 100% Zuschauervoting in Europa und Australien getroffen, in der M&S Bank Arena traten 16 Nationen um zehn Finalplätze an.

Was man wirklich lobend erwähnen muss ist, dass die in den letzten Jahren immer wieder zum Zynismus neigende BBC es geschafft hat, den Spirit der Eurovision showgerecht zu verpacken und mit dem notwendigen Know How eine Produktion von Weltrang aufgezogen hat. Vor Ort wird immer wieder die Organisation, die Bühne und das Management der Verantwortlichen gelobt und ich finde, man spürt auch vor dem Fernseher, dass man nicht irgendwo aus der hintersten Provinz sendet. Auch die Einflechtung der ukrainischen Traditionen und Musikkultur zündet auf Anhieb.

So gab es gestern Abend einen wunderschönen Interval-Ausflug mit Maria Yaremchuk, die die Ukraine 2014 mit "Tick tock" in Kopenhagen vertreten hat und die sogleich noch Europa erörtert hat, dass die Weihnachtsjingle aus "Kevin - Allein zu Haus" eigentlich ukrainisches Erbe ist. Doch ich schweife ab, nach kurzen Instruktionen traten die 16 Bewerber für die zehn Startplätze nach und nach auf die Bühne, wenngleich der erste Block an Kandidaten sich offenbar in geheimer Absprache auf den Farbton Pink einigte.

Reiley, der neben Dänemark auch noch die Färöer-Inseln vertrat, eröffnete in das Halbfinale und machte das, was man von einem Influencer erwartete, er sang in zuckrig-klebrigem Autotune drei Minuten irgendetwas daher. Seitdem er beim Melodi Grand Prix ausgewählt wurde, habe ich "Breaking my heart" geskippt und auch gestern Abend sprang der Funke bei mir nicht über. Auch Europa konnte sich nicht erbarmen und Dänemark scheidet das dritte Mal in Folge im Halbfinale des Eurovision Song Contests aus, dafür kann er immerhin erhobenen Hauptes nach Tórshavn zurückfahren.

Das schwere Los der Startnummer zwei hatte Armenien. Brunette hatte kurzerhand noch einen Dance Break in ihre Performance eingebaut und wurde für ihren Mut belohnt. "Future lover" qualifizierte sich als Vorletztes für die Samstagabendshow anders als Theodor Andrei, der im Prinzip schon mit Ansage ausschied. Die erste Minute seines Beitrags war letztlich eine Unplugged-Version von "D.G.T.", ehe er als Küblböck-Verschnitt irgendetwas darbot, was weder im Großen noch im Kleinen zu verstehen war, ebenso das Verschmieren von Motoröl auf seiner Brust gegen Ende der Show. 

Der rumänische Beitrag ist im diesjährigen Kandidatenfeld der einzige, der in der Landessprache gesungen wurde, es jedoch nicht ins Finale geschafft hat. Dafür war die Nummer dann doch zu kompliziert, aber gemäß dem Motto "Dabei sein ist alles", hatte Theodor seine drei Minuten. Weiter ist dafür Estlands Sängerin Alika. Mit einem autonomen Klavier sang sie die einzige Ballade des Abends und hob sich exklusiv vom Rest des Feldes ab. Mir hat das Staging hervorragend gefallen, bisher hatte ich Estland nicht so recht wahrgenommen. Allerdings sollte sie darauf verzichten, die Magie des selbstspielenden Klaviers zu zerstören, indem sie so tut, als würde sie auch drei Tasten drücken...

Sichtlich Spaß hatte auch Gustaph aus Belgien, der sich und seine Backings drei Minuten lang in George Michael-Manier gefeiert hat. Mit seinem ausladenden Hut und einer Kostümmischung, die an Pfefferminzbruch erinnerte, brachte er Belgien erneut ins Finale und spätestens nachdem ihm bei der Bekanntgabe vor Rührung die Tränen in die Augen schossen, hat man gesehen, dass Gustaph für die Eurovision lebt. Für Belgien freut es mich enorm, denn der Sänger ist derart sympathisch, dass ihm ein Triumph zu gönnen ist, wobei ich für Samstagabend keine allzu großen Sprünge im Ranking sehe.

Andrew Lambrou lieferte ebenfalls solide ab und nutzte das breite Feld der Spezialeffekte. Am Ende der Performance des für Zypern antretenden Australiers glich die Bühne einem Flammenmeer. Gut gesungen und dabei noch ganz adrett anzusehen qualifizierte sich Zypern souverän für das Finale und dürfte mit mindestens 24 Punkten aus Griechenland vom Platz gehen. Ausgeschieden ist dafür die isländische Sängerin Diljá, die einen nordisch-kühlen Ausdruckstanz im grauen Sportanzug performte. Der Titel floss, wie die Wasserfälle in der Postkarte, drei Minuten dahin ohne irgendwie Eindruck zu hinterlassen. Island ist damit erstmals seit Ari Ólafsson 2018 nicht im Finale dabei.

Ebenfalls müssen die Griechen ihre Hoffnungen, die sie in den 16jährigen Victor Vernikos gelegt haben, begraben. Der jüngste Interpret des Abends wirkte wie ein australischer Parkranger und zappelte drei Minuten unnötigerweise aufgescheucht über die Bühne, seine englische Aussprache fragwürdig. Milde walten zu lassen nur weil er noch so jung ist zieht nicht, die Performance war einfach schlecht. Die griechische Delegation wirkte in diesem Jahr seit ihrem Auswahlverfahren schlichtweg überfordert, einen gescheiten Act zu konzipieren und flog zurecht im Halbfinale raus. Vielleicht sollte man sich im kommenden Jahr doch mal wieder mit krachendem Uptempo-Ethno probieren...

Danach kam die Meme-Königin aus Polen: Blanka. Ihr "Bejba" wurde vom Auditorium in der M&S Bank Arena mitgegröhlt und nicht zuletzt dürften die wunderschön inszenierte, mediterrane Kulisse und die Eingängigkeit von "Solo" über das doch recht dünne Stimmchen hinweggetäuscht haben. Polen steht meiner Meinung nach aber zurecht im Finale, auch seichte Melodien haben ihren Platz im Teilnehmerfeld, es muss nicht immer zehn Minuten über die Bedeutung interpretiert werden. Außerdem dürfte es für Blanka, die im Vorfeld von der Bubble zerrissen wurde auch eine Genugtuung sein, ihren Hatern mit der Qualifikation in die Fresse gehauen zu haben, Go Blanka!

Kurz nach 23 Uhr (MESZ) war nur noch ein Finalplatz vakant, das Publikum skandierte "Slovenia" und so kam es dann am Ende auch. Die sympathischen Jungs von Joker Out, die teilweise als erwachsene Version von LPS aus dem Vorjahr tituliert wurden, haben es mit gutem Indie-Poprock in Landessprache in die Samstagabendshow geschafft. Und auch wenn fast niemand verstanden haben dürfte, worin es in "Carpe Diem" eigentlich geht, so spürte man doch, dass dort gute Kräfte wirken und die Band mit ihrer Fröhlichkeit große Massen zu bewegen weiß. Meiner Meinung nach läuft Slowenien sogar Gefahr das beste Ergebnis seiner Geschichte im Finale einzufahren, das wäre mindestens Platz sieben.

Auf der Strecke blieb dafür wieder einmal Georgien. Dabei hat Iru alles richtig gemacht, es gab eine Windmaschine, ein wallendes weißes Kostüm, Dramatik, Ethno-Elemente und eine gute Sängerin. Der Mehrwert des Liedes wurde allerdings nicht erkannt, vielleicht war all das doch zu sperrig, ein Problem mit dem georgische Beiträge seit Jahren kämpfen. Immerhin muss man die Georgier für ihren Wagemut loben, die sich ähnlich wie z.B. Portugal nicht verstellen und jedes Jahr nicht auf Trends Rücksicht nehmen sondern authentische Lieder entsenden, wenngleich diese im Mainstream untergehen.

Fremdschämen durfte man sich im Anschluss beim Beitrag aus San Marino. Leider völlig ernst gemeint fielen Textzeilen wie "C'mon, baby, come and find me, I can smell you like an animal". Der Leadsänger von Piqued Jacks ist der Phänotyp Mensch, der mit seiner Art unangenehm aufdringlich wirkt und in dessen Gegenwart man sich unwohl fühlt. Meiner Meinung nach dürfte es sich hierbei um den letzten Platz im Halbfinale handeln, man darf auf die Veröffentlichung der Halbfinalergebnisse in der Nacht zu Sonntag gespannt sein. San Marino läutete jedoch einen zweiten Farbblock ein, nämlich Rot und Schwarz.

Es folgten Teya & Salena, die mit dem gleichen Farbschema jedoch einer viel originelleren Performance und dem treibenden "Poe Poe Poe" das Publikum zum Mitmachen animierten. Auch wenn das Wort antiquiert ist, wie die Schreibmaschine des Edgar Allan Poe, so war der österreichische Beitrag einfach nur "schmissig" und hat seinen Finalplatz zurecht eingefahren. Leider müssen Teya & Salena das Finale am Samstag eröffnen, das dürfte die Chancen der ebenso witzigen wie tiefsinnigen Nummer deutlich schmälern, aber für Österreich ist es ein Achtungserfolg und die erste Finalteilnahme seit 2018.

Auch Albanien setzte auf seine Landesfarben Rot und Schwarz und den starken Zusammenhalt der Familie. Eben jene Familie Kelmendi begleitete Leadsängerin Albina bei ihrem großen Auftritt in Liverpool. Ihre Schwestern, ihr Bruder und ihre Eltern unterstützten die 25jährige in ihrem Schaffen, in dem sie sich hinter ihr aufbauten, Tücher schwangen und den Chorus übernahmen. Mit Pathos und dem für Albanien üblichen Tonfall qualifizierte sich das Familienunternehmen ebenfalls, zurecht wie ich finde, gehört doch auch eine gehörige Portion Balkan-Folklore in ein Song Contest-Finale.

Für Kurzweil und eine gewisse Behaglichkeit sorgte Monika Linkytė aus Litauen, sie harmonierte mit ihrem Backgroundchor und schuf mit der rituellen Formel "Čiūto tūto" eine Atmosphäre, die an den König der Löwen erinnerte. Auch Europa fühlte sich bei der Wiederholungstäterin, die 2015 schon einmal mit Vaidas Baumila im Finale von Wien dabei war, offenbar wohl und votierte Litauen ins Finale. Abgeschlossen wurde das Halbfinale durch Australien und die Gruppe Voyager, bei der Peter Urban natürlich nicht umhin kam, zu erwähnen, dass Sänger Danny Estrim in Buchholz in der Nordheide aufgewachsen ist.

Was genau das Auto auf der Bühne zu suchen hatte bleibt ein Rätsel, ansonsten war die Choreographie zu "Promise" einer Rockband würdig, das Gitarrenriff und die Pyrotechnik hallen noch jetzt bei mir nach. Ähnlich wie beim deutschen Beitrag setzen die Australier teilweise auf Growling und glücklicherweise haben die Organisatoren der EBU die beiden Beiträge, die sich unter Umständen kannibalisiert hätten, im Finale weit auseinander gesetzt. Australien erhielt noch einen weiteren Moment, nämlich als im Interval-Act zeitweise "We got love" von Jessica Mauboy ertönte.

Eben jener Pausenact bot die "Queen Machine" auf, in die sich die Moderatorinnen Alesha Dixon, Julia Sanina und Hannah Waddingham verzogen um als Dragqueens wieder aufzutauchen und eine Inklusionshymne für europäischen Zusammenhalt, sexuelle Vielfalt und die Willkommenskultur der Eurovision zu singen. Das dürfte den konservativen Programmchefs in einigen Nicht-Teilnehmerländern ("İyi akşamlar!") wieder einmal übel aufstoßen. O-Ton der Performance war, dass jeder Teil der Eurovision sein darf und ich finde das merkt man anhand der musikalischen Zusammensetzung des Finales recht gut.

Am Ende verifizierte Martin Österdahl in seiner unnahbaren Teflon-Art das ein Ergebnis abgenickt werden konnte und das Finale nunmehr besetzt ist. Zuvor stellen die direkt qualifizierten Finalisten aus Spanien, der Ukraine und dem Vereinigten Königreich noch ihre Beiträge vor, die angeschnittenen Clips von Blanca Paloma und Mae Muller lassen noch Spielraum für Spekulationen, ob es für beide ein eher punktearmer Abend. Alles in einem muss man der BBC allerdings wieder einmal für einen tollen Abend gratulieren, nun geht's mit großen Schritten zum Finale.

Auftakt mit jähem Ende: Reiley | Stand nahezu drei Minuten schräg auf der Bühne: Brunette

Sponsored by Castrol: Theodor Andrei | There's a ghost in my piano: Estland

Hatte den Auftritt seines Lebens: Gustaph | Ein heißer Feger auf feurigem Terrain: Zypern

Treten beide die Heimreise an: Diljá aus Island und Victor Vernikos aus Griechenland

Die Magie der Schlichtheit: Polens Sängerin Blanka hat es ins Finale geschafft

Verbreiteten gute Stimmung: Joker Out | Reiht sich in die georgischen Misserfolge ein: Iru

Der "Ugh"-Moment: Piqued Jacks aus San Marino | Edgar darf am Samstag noch mal ran: Österreich

Der Kelmendi-Clan ist ebenfalls qualifiziert | Ebenso Monika für Litauen

Ford Granada-Akzente zu Schluss: Australien | Otoyo und Maria Yaremchuk als Interval

RuPaul's Drag Race trifft Eurovision: "Be who you wanna be"

Souverän wegmoderiert: Julia Sanina und Hannah Waddingham | Albanien backstage

Die Auslosung der Starthälften mit Timur Miroshnychenko wurde auf TikTok zelebriert

Team Österreich eröffnet am Samstag das große Finale