Sonntag, 25. Oktober 2020

Eurovision am Sonntag (63)


Europa
- Vielleicht ist es Einbildung, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass die Europäische Rundfunkunion bzw. das Team rund um den Eurovision Song Contest nicht so wirklich weiß, wohin der Wettbewerb im nächsten Jahr steuert. Es ist bedenklich still geworden in Genf und Rotterdam, klar, mit so vielen Problemen vor der Haustür ist das auch kein Wunder und man kann ohne konkrete Maßnahmen keine Entscheidungen fällen, die eine Show in einem halben Jahr betreffen, aber ein bisschen mehr Transparenz wäre schon wünschenswert, auch um die Fans bei Laune zu halten.

Kommentiert den JESC:
Bürger Lars Dietrich
Möglicherweise nimmt die EBU aber auch den Junior Eurovision Song Contest als Testgelände für den Erwachsenen-Wettbewerb, kann man anhand dieser Show immerhin abwägen, wie sich eine Liveshow, die Millionen Menschen verfolgen unter erschwerten Bedingungen ausgetragen werden kann. Bis es da empirische Beweise gibt, muss man sich eben mit dem Statement begnügen, dass es definitiv einen Eurovision Song Contest 2021 geben wird, man nur noch nicht weiß welches der vier Szenarien zum Einsatz kommt. Die momentan überall in Europa in die Höhe schnellenden Corona-Fallzahlen dürften das Worst Case-Szenario momentan in eine führende Position bringen.

So lange noch keine konkreten Entscheidungen gefallen sind, können wir uns noch mit der bisher unvollständigen Teilnehmerliste für 2021 beschäftigen. Offiziell sind bisher 38 Nationen für Rotterdam gemeldet, wobei die Dunkelziffer mit Nationen wie Großbritannien und Moldawien durchaus höher liegen wird. TRM schweigt sich erfahrungsgemäß bis zum bitteren Ende aus, hat in diesem Jahr allerdings eine Künstlerin in den Startlöchern, die bereitwillig über ihr Engagement 2021 berichtet. Natalia Gordienko, die wir noch aus Athen 2006 kennen, wo sie gemeinsam mit O-Zone-Sänger Arsenium "Loca" präsentierte, war in Moskau um ihren Song für Rotterdam aufzunehmen, der zumindest auf dem Reißbrett auch sehr spannend klingt.

Natalia Gordienko wagt den
Vergleich zu Maruv (UA'19)
Wenn wir den Berichten Glauben schenken dürfen, hat das Dream Team um Philipp Kirkorow einen "Sex sells"-Beitrag produziert, der im Uptempo-Style einer Maruv daherkommen soll. Die Idee die mittlerweile 32jährige Natalia mit einer dramatisch inszenierten Ballade wie "Prison" antreten zu lassen, wurde scheinbar rasch verworfen, stattdessen können wir davon ausgehen, dass Chișinău im nächsten Jahr die optischen Reize seiner Interpretin ausspielen wird. Ob die Qualität des Songs darunter leiden wird, bleibt abzuwarten, der selbst ins Spiel gebrachte Vergleich mit dem "Siren Song" aus der Ukraine legt die Messlatte auf jeden Fall sehr hoch. 

Darüber hinaus hält sich die britische BBC bislang mit Nachrichten zu seiner Teilnahme im kommenden Jahr zurück. London hat sich noch mit keiner Silbe zur Eurovision 2021 geäußert, James Newman, der in diesem Jahr "My last breath" hätte singen sollen, bekundete allerdings Interesse an einer erneuten Verpflichtung, sofern er mit den gleichen Komponisten wie 2020 wieder zusammenarbeiten dürfte. Als gesetztes Big Five-Mitglied, das automatisch im Finale von Rotterdam dabei sein wird, gehe ich stark von einer Bestätigung in den nächsten Tagen aus. Alles andere wäre schon sehr verwunderlich, auch wenn die Eurovision in Britannien nicht mehr den Ruf von vor 20 oder 30 Jahren genießt, als man regelmäßig ganz weit vorne mitspielte.

Lässt in die BBC im Wald
stehen? James Newman

Dies haben sich die Briten aber auch selbst auf die Fahne zu schreiben. Mit Ausnahme von wenigen Ausreißern, etwa Jessica Garlick 2002 in Tallinn oder Jade 2009 in Moskau gab es nur wenig Erbauliches aus dem Vereinigten Königreich. Kein Wunder also, dass die Show vor allem als Witz wahrgenommen wird, bei dem man sowieso außer ein paar Gnadenpünktchen aus Irland nichts zu erwarten hat. Trotz einem der größten und bedeutendsten Musikmärkte der Welt schickt das UK zumeist schwache und halbherzig ausgewählte Beiträge ins Rennen. Wobei man zumindest von dem Trend Abstand genommen hat, ehemalige Stars auf die Bühne zu stellen, in der Hoffnung, sie erleben noch einmal ihren zweiten Frühling.

Dies hat die BBC spätestens nach dem Auftritt von Bonnie Tyler 2013 in Malmö verstanden. Während sie in den 70er und 80er Jahren Hits von weltweiter Tragweite sang, etwa "It's a heartache" oder "Holding out for a hero" war "Believe in me" nicht mehr als ein gescheiterter Comeback-Versuch, den schon Engelbert Humperdinck im Jahr zuvor nicht schaffte. Bonnie Tyler trat zuletzt im ZDF-Fernsehgarten oder in Florian Silbereisens Feste-Shows an der Seite von Ben Zucker auf. Und dies führt mich zu einer Frage, die ich mir erst gestern wieder gestellt habe, als ich im Ersten der Moderation von Flori und Beatrice Egli folgte: Warum probiert es die ARD nicht mal mit einer Schlagerproduktion?

Die neuen Abräumer am
Schlagerhimmel: Thomas
Anders und Flori

Nichts wäre einfacher, als einen Schlagersänger aus den eigenen Reihen zu nehmen, dieses Genre erlebt in Deutschland schließlich seit Jahren eine Renaissance, abseits der Charts, füllt (wenn nicht gerade Corona wütet) ganze Stadien und bringt zumindest musikalisch eine gehörige Portion Camp mit, der beim Eurovision Song Contest nie schaden kann. Gemeinsam mit Thomas Anders sang Florian Silbereisen gestern z.B. "Sie sagte doch sie liebt mich", ein Lied, das ich mir durchaus auch in Rotterdam mit einem entsprechend ordentlich choreographierten Staging vorstellen könnte. 

Dies ist durchaus eine Alternative zu schwachen Popliedern wie denen einer Levina oder den S!sters. Eine Maite Kelly oder ein Roland Kaiser schaffen es in Deutschland schließlich auch, Dauerbrenner zu intonieren, warum also nicht in Europa? Außerdem scheint die Szene auch einiges für den Nachwuchs zu tun, gestern trat etwa der gesamte Clan von Matthias Reim auf, seine Tochter Marie sang ihr eigenes Lied, ehe es zum großen Finale zu "Verdammt ich lieb dich" kam. Dazwischen sang Howard Carpendale seine größten Hits, es gibt also genügend Optionen, die sich eher sehen lassen könnten, als ein paar Nonames, die beim NDR mit Hängen und Würgen zusammenkommen und im schlimmsten Fall mit weniger Gesangstalent gezeichnet wurden, als die Moderatorin des Vorentscheids. 

Die großartige Barbara Schöneberger, die ich neulich endlich im Zug von Berlin nach Hamburg begrüßen durfte, hat sich auch schon die Ehre gegeben, mit Roland Kaiser den Titel "Niemand" aufzunehmen. Wie auch immer, ich würde es begrüßen, wenn sich ein Interpret dieses Genres die Ehre geben würde, schließlich scheint sich auch die jüngere Zielgruppe mit dieser Musik identifizieren zu können. Anders ist ein Sieg von Ramon Roselly bei DSDS oder die tolle Einschaltquote der Schlagershow von gestern Abend nicht zu erklären. Allerdings scheint der NDR bereits in den Vorbereitungen seiner Künstlerauswahl zu stecken, wenngleich wir davon ebenso wie von der EBU nicht allzu viel hören. Dies wird sich hoffentlich nach dem Junioren-Song Contest ändern...