Donnerstag, 4. Juli 2019

UNESCON: "Musik, die meine Geige spielt"



ESC-Künstler mit Liveorchester – das gelungene Debüt der UNESCON in Hannover

Von Claes-Göran Hederström bis Chingiz: Irving Wolther hatte sieben Acts der ESC-Geschichte nach Hannover geholt, um am letzten Juniwochenende (ihre) ESC-Hits zu präsentieren. Mit 26-köpfigem Orchester. Das Ergebnis: eine grandiose Gala, bei der ein Highlight das nächste jagte. Wir warten 2020 auf das „Replay“! 
Ein Bericht von Matthias Breitinger

Wie mag wohl Loreens „Euphoria“ mit einem Liveorchester klingen? Wer sich immer diese Frage gestellt hat, bekam am Samstagabend in Hannover die Antwort: bei der ersten UNESCON, der ESC Convention, die Irving „Dr. Eurovision“ Wolther auf die Beine gestellt hatte. (Ein Um-die-Ecke-gedacht-Wortspiel aus „ESC“, „Convention“ und der Tatsache, dass Hannover Unesco-Stadt der Musik ist.) 

Die Idee war brillant – und man fragt sich hinterher, warum in all den orchesterlosen Eurovisionsjahren noch keiner darauf kam, ESC-Künstler mit Livemusikern auftreten zu lassen. Denn es klang einfach großartig. Auch „Euphoria“. Zwar nicht von Loreen herself vorgetragen, aber Chiara aus Malta sang den 2012er-Siegersong sehr gut. 

Wobei klar ist: Auch in der Nach-Orchester-Ära gab und gibt es viele ESC-Songs, die (anders als „Euphoria“) mit Orchester aufgenommen oder durchaus für Orchester konzipiert sind. „Rise like a phoenix“ etwa, oder auch Chiaras letzten ESC-Beitrag von 2009, „What if we“. Und viele Lieder, die am Samstagabend im Pavillon an der Lister Meile zu hören waren, stammten auch aus der Zeit, als ein Liveorchester zum ESC gehörte wie zuhause der Käseigel vorm Fernseher.

Aber das 26-köpfige „Orchester im Treppenhaus“ (plus eine Begleitband mit sechs Musikern) hatte auch moderne ESC-Songs arrangiert und einstudiert: Ein Medley etwa enthielt „Hard Rock Hallelujah“ und „Satellite“, ein anderes mit Songs 2019 bot orchestrale Versionen von Luca Hännis „She got me“, „Soldi“ und „Hatrið mun sigra“. Doch neben dem Orchester und dem dreiköpfigen Begleitchor standen natürlich die sieben Stargäste im Mittelpunkt.

Gedenken an Joy Fleming und Maria Guinot
Punkt 20 Uhr begann die Show, vor nicht ganz vollem Saal, mit der Eurovisionshymne (auf Blockflöte gespielt). Dann begrüßten uns die Moderatoren Alina Stiegler und Stefan Spiegel zusammen mit Irving mit „Man gewöhnt sich so schnell an das Schöne“. Und schnell war dann auch schon Stargast Nr. 1 dran: Corinna May, die ihre drei Songs „Hör den Kindern einfach zu“, „I believe in God“ und „I can’t live without music“ präsentierte. 

Mit Claes-Göran Hederström ging es weiter: Der Schwede sang selbstverständlich seinen Beitrag von 1968, „Det börjar verka kärlek, banne mej“, außerdem Cliff Richards „Congratulations“ sowie „Historien om en vän“, mit dem es Claes-Göran 1973 beim Melodifestivalen vergeblich versuchte. Chiara sang neben „Euphoria“ ihre drei ESC-Songs, also „The one that I love“, „Angel“ und „What if we“. 

Zwischendurch erinnerten Irving und Alina an verstorbene ESC-Künstler. Anschließend gedachte das Treppenhausorchester mit „Refrain“ an die erste ESC-Siegerin Lys Assia, ehe Corinna May und Joy Flemings Sohn Bernd Peter Fleming erst „Ein Lied zieht hinaus in die Welt“ von Jürgen Marcus und dann Joys unvergessenen Beitrag „Ein Lied kann eine Brücke sein“ sangen. Und dann kam Manuela Bravo, Portugals ESC-Teilnehmerin von 1979, auf die Bühne und präsentierte das tolle „Silêncio e tanta gente“ von ihrer 2018 verstorbenen Landsfrau (und großen Freundin) Maria Guinot. Ein echter Gänsehaut-Moment.

Anschließend sang Manuela Bravo selbstverständlich auch ihren eigenen ESC-Song „Sobe, sobe, balão sobe“ sowie gemeinsam mit der Estrada Fado Group den Siegertitel „Amar pelos dois“.

Mit der Bitte, das Orchester zum ESC zurückzuholen
Nach einer gut halbstündigen Pause, die man im Foyer u.a. für Drinks und nette Gespräche mit anderen Fans nutzte, ging es mit der Eurovisionshymne des Orchesters („Te deum“ in voller Länge!) weiter. Dann war die türkische Doppel-Teilnehmerin Şebnem Paker an der Reihe. Das Orchester hatte auch mit ihren orientalisch klingenden Songs „Beşinci mevsim“ und „Dinle“ sowie „Çal“ (Şebnems Versuch, 1998 nochmal den türkischen Vorentscheid zu gewinnen) keine Probleme.

Für „Çal“ kam sogar extra ein Musiker mit einem Kanun (orientalische Zither) auf die Bühne. Ganz groß! Das Publikum war begeistert, und Şebnem gab, wie die anderen Künstler auch, ihrer großen Freude Ausdruck, mit einem so wunderbaren Orchester performen zu dürfen. (Bei Elina und Corinna verbunden mit dem Wunsch, der ESC möge das Liveorchester zurückholen…)

Das bereits erwähnte Medley 2019 wurde gekrönt von Estlands Opernsängerin Elina Nechayeva, die mit Sergey Lazarevs „Scream“ die Bühne betrat. Ihre Version des Drittplatzierten von Tel Aviv war wunderbar – so wurde aus „Scream“ mal eben eine Opernarie. Noch besser wurde es danach: Elina hatte sich den österreichischen Beitrag von 1962, „Nur in der Wiener Luft“ der Operettensängerin Eleonore Schwarz, ausgesucht. Mit dem Treppenhausorchester natürlich ganz große Kunst! Danach präsentierte Elina den estnischen Titel von 2012, „Kuula“, und schließlich ihren eigenen Beitrag „La forza“. Ich war nie großer Fan von „La forza“, aber im Saal war ich dann doch ganz angetan von Elina und ihrer Stimme. 

Chingiz mit Flamencogitarre
Danach ein ganz anderer musikalischer Farbtupfer: Chingiz aus Aserbaidschan verzichtete aufs Orchester, er kam mit seiner Gitarre auf die Bühne und begleitete sich selbst zu einer Balladenversion von „Truth“. Anschließend spielte er ein bisschen spanische Flamencogitarre und entwickelte daraus „Milim“ von Harel Skaat. Auch das war absolut brillant. Und dann durfte auch der jüngste ESC-Siegertitel nicht fehlen: Gemeinsam mit Elina sang Chingiz „Arcade“. Er war nicht ganz textsicher, aber das tat dem Ganzen keinen Abbruch. Auch das war einer der vielen Highlights des Abends.

Und dann endete die Gala auch schon, mit „Bonne nuit ma chérie“, dem deutschen ESC-Beitrag 1960, auf den Irving einen neuen Text geschrieben hatte („ESC, oh ich träume von dir“). Auf der anschließenden ESC-Disco mit DJ Ohrmeister in einem kleineren dunklen Raum des Pavillon mit Discokugel konnte man noch die halbe Nacht zu Eurovisionshits tanzen.

Gegen Mitternacht trat dort als Special Guest Kaia Tamm auf, die in diesem Jahr beim estnischen Vorentscheid mit „Wo sind die Katzen?“ für ein schräges Guilty Pleasure gesorgt hatte. (Am Nachmittag hatte Kaia auf der UNESCON-Pressekonferenz auf die Frage, warum ausgerechnet eine Estin in der Saison 2019 den einzigen komplett deutschen Song geliefert habe, geantwortet: „Irgendjemand musste es ja machen, ich nehme die Arbeit auf mich“ 😊) 

Kaia rockte die Disco mit „Er gehört zu mir“ und Helene Fischers „Atemlos“, und ihr DJ „Günter“ setzte mit Alf Poiers „Weil der Mensch zählt“ noch eins drauf. Der Katzensong war natürlich das Sahnehäubchen – bei der Zugabe fiel dann allerdings das Halbplayback aus.

Wacken ist ja auch jedes Jahr….
Leider leerte sich nach Kaias Auftritt die Tanzfläche recht schnell, und nur ein kleines Häufchen ESC-Hardcore-Fans blieb bis zum Schluss gegen 2 Uhr. Das war etwas schade…  Vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass es im Disco-Raum keine Bar gab und man jedes Mal durch den ganzen Pavillon laufen musste, um sich vorn im Foyer Getränkenachschub zu besorgen. Einer der wenigen Kritikpunkte einer insgesamt sehr gelungenen Veranstaltung, die Lust auf mehr machte.

Alles in allem war das UNESCON-Debüt großartig. Man hätte Irving gern mehr Zuschauer gegönnt – der eine oder andere Platz im Saal blieb leer, und so blieb wohl unterm Strich ein finanzielles Minus. Mancher Fan war vielleicht abgeschreckt von der Bezeichnung „Convention“ angesichts der schlechten Erinnerungen an ein ähnliches Projekt in Frankfurt… (ich treffe nach wie vor Fans, die nach eigener Aussage immer noch auf die Rückzahlung der vorgestreckten Ticketsumme warten) Und für eine generelle Kulturveranstaltung für den Großraum Hannover ist das Thema ESC mit Künstlern, die außerhalb der Bubble längst vergessen sind, womöglich dann doch zu „nerdig“. 

Auch zum Fado-Konzert mit Manuela Bravo am Sonntagnachmittag kamen nicht allzu viele (bei dem schönen warmen Wetter leider wenig überraschend). Dennoch bleibt zu hoffen, dass „Dr. Eurovision“ sein selbstgenanntes „Wacken für Eurovisionsfans“ im kommenden Jahr wiederholen wird. Schließlich sang er selbst ja: Man gewöhnt sich so schnell an das Schöne! Und außerdem gibt es noch so viele wunderbare ESC-Beiträge, die man mit dem Orchester hören möchte – seien es Klassiker wie „Disco tango“ und „Hold me now“ oder Modernes wie „Crisalide“ oder „Love injected“.

Opening mit Alina Stiegler, Stefan Spiegel und Irving Wolther | Corinna May
Claes-Göran Hederström | Chiara
Manuela Bravo mit ihrer Fado-Gruppe | Şebnem Paker
Elina Nechayeva | Chingiz
Chingiz im Duett mit Elina Nechayeva | Abschlussbild mit den Stars



Wer die Gala verpasst hat: Hier gibt es das komplette Konzert zum Nachschauen.