Schweiz - Alphörner, Hackbretter und ganz viel Lokalkolorit, nicht zuletzt Dank einer gewaltigen LED-Wand mit alpiner Bergkulisse zeigten schon in der ersten Einstellung, dass der Eurovision Song Contest "back home" in der Schweiz ist. Dort wo 1956 die größte Unterhaltungsshow der Welt ihren Lauf nahm, luden Hazel Brugger und Sandra Studer zum ersten Halbfinale der Saison. Eine Rückblende auf "Canzone per te", mit dem Sandra 1991 in Rom antrat und immerhin Fünfte wurde, durfte dabei natürlich nicht zählen. Das Bonmot, dass man in der Schweiz viel recycelt, sogar ehemalige Teilnehmer, lockerte die Moderation auf.
Insgesamt haben sich die beiden recht gut verkauft, Hazel wirkte zwar anfangs noch etwas steif, taute aber im Lauf der Show auf und sorgte mit bizarren Greenroom-Interviews für Kurzweil während der Wertungspause und Auszählung der Stimmen. Das führt direkt zum nächsten Punkt, denn die Bekanntgabe der Finalisten wurde im Vergleich zu den letzten 20 Jahren massiv geändert. Nicht nur, dass man Martin Österdahl zwar sah, aber nicht hörte, vermutlich aus Eigenschutz vor negativen Reaktionen, auch die Art und Weise der Präsentation der qualifizierten Acts wurde generalüberholt.
Bisher waren die Hosts im Fokus und gaben nach und nach die Namen der qualifizierten Nationen bekannt, heuer wurden jeweils drei Interpreten eingeblendet, einer von ihnen zog ins Finale ein. Was zur Erhöhung des Spannungsbogens beitragen sollte, entpuppte sich aus meiner Sicht jedoch als undurchschaubares Spiel, das erst ganz am Ende, als man den zehnten Act auf klassische Art bekannt gab, Spannung kreierte. Für dieses Jahr ist das Kind nunmal in den Brunnen gefallen, es bleibt zu hoffen, dass man 2026 wieder zur ursprünglichen Verkündung zurückkehrt, denn Charme hatte dieses Konzept nicht.
Dafür gab es eine charmante Inszenierung von Wilhelm Tell, der auf humoristische Art und gespielt von Petra Mede, den Gründungsmythos der Eurovision in "Old Helvetia" erläuterte, 600 Jahre vor der Erstausgabe in Lugano. Ins Reich der Legenden kann man auch die Prognosen der Buchmacher verbannen. Zwar gab es keinerlei Zweifel daran, dass etwa die Saunafreunde aus Schweden oder der Espresso Macchiato von Tommy Cash ins Finale einziehen, mit Portugal und seinem unaufgeregten "Deslocado" hatte jedoch niemand gerechnet. Die Band Napa hat wieder einmal allen Vorhersagen Lügen gestraft, Portugal ist am Samstag mit dabei.
Es ist zudem bemerkenswert, dass von den zehn qualifizierten Acts nur ein Titel vollständig auf Englisch gesungen wird, nämlich der von Kyle Alessandro aus Norwegen, der mit Drachen und Feuersbrunst auf den LEDs nicht spüren ließ, dass ihm vergangene Woche noch ein Weisheitszahn gezogen wurde. Norwegen ist, ebenso wie seine skandinavischen Nachbarn ins Finale eingezogen, Schweden überrascht nicht, dass die Isländer jedoch Samstagabend weiterrudern dürfen, finde ich bemerkenswert.
Der Abend war zudem fest in italienischer Hand, nicht nur, dass Lucio Corsi seinen Beitrag aus San Remo auch im Halbfinale teasen durfte und dabei mit seiner Mundharmonika das erste Liveinstrument beim Song Contest seit 1998 spielte, auch San Marino qualifizierte sich mit eben jenem Titelsong von San Remo für das Finale. DJ-Acts haben es üblicherweise schwer, angesichts der fehlenden Juroren und der Schützenhilfe aus Italien, die gestern abstimmen durften, hat es Gabry Ponte allerdings als erster Act für San Marino seit Senhit und Flo Rida wieder ins Finale geschafft.
Der dritte, wenngleich in "Broken Italian" performte Titel stammt aus Estland und wurde mit einer eigenwilligen aber interessanten Performance von Tommy Cash aus Estland vorgestellt. Mit seinen tanzenden Security-Guards und einem vorgetäuschten Fan hibbelte er über die Bühne und sicherte sich einen Startplatz im Finale, am Ende gab es den wichtigen Appell "Coffee for everyone". Der dazu passende Poison Cake aus Kroatien indes schied aus, der blubbernde Kessel, die dystopische Kulisse und die ballernden CGI-Bilschirmeffekte konnten Kroatien nicht mehr retten.
Ebenso schied mit Red Sebastian aus Belgien einer der Mitfavoriten vorzeitig aus. Nun wo der ganze Auftritt bekannt ist, muss man aber leider auch sagen, dass dies zurecht geschah. Die Choreographie mag noch in Ordnung gewesen sein und auch die in Gänze in Rot gehaltene Show auch, stimmlich war es aber tatsächlich nicht sein Abend, die Eurovision hat aber zumindest wieder einen Hit für den Euroclub gefunden. Dort wird wohl auch Zyperns Beitrag sein letztes Requiem feiern. Theo Evan und seine Tänzer werkelten auf der Bühne an ihrem Klettergerüst herum, ohne Struktur und erkennbaren Mehrwert für's Finale.
Ebenso auf der Strecke blieb Klemen Slakonja aus Slowenien, wobei ich sagen muss, dass der Auftritt wirklich stark und nicht minder emotional war. Da könnte ich mir vorstellen, dass es knapp auf dem elften Platz landete, anders als bei Aserbaidschan, dessen Beitrag mir persönlich zwar wirklich gut gefällt, andererseits hat man auch hier die Hektik und vor allem die stimmlichen Defizite deutlich gesehen und gehört. Schade, Aserbaidschan fliegt zum dritten Mal in Folge mit lokal produzierten Acts aus dem Rennen, was den staatlichen Rundfunk hoffentlich in Zukunft nicht dazu herablässt, sich wieder eine Guerilla an schwedischen Komponisten ins Boot zu holen.
Während die Träume für Aserbaidschan, Belgien, Kroatien, Slowenien und Zypern vorzeitig zerplatzt sind, gibt es ein Wiedersehen mit dem albanischen Duo Shkodra Elektronike. Mit einer einmaligen Mischung aus moderner, treibener EDM und ganz viel Folklore, Sprechgesang und einer tollen Kostümierung dürfen sich die Albaner weiterhin Hoffnungen auf eine in Fankreisen prognostizierte vordere Platzierung machen. Meinen Segen hätten sie, der ganze Auftritt ist Kunstwerk, authentisch und man hört, dass dort wo Albanien draufsteht auch Albanien drin ist, sehr gut gemacht!
Etwas mehr Bedenken hatte ich dabei schon bei Polen. Justyna hat auf der Bühne ihre protoslawischen Mantren abgefeuert, hing im wahrsten Sinne des Wortes in den Seilen und turnte in High Heels über die Bühne, als ginge es um ihr Leben, dabei klang die Stimme jedoch phasenweise etwas überstrapaziert. Trotzdem reichte es für Justyna auf den Tag genau 30 Jahre nach ihrem Auftritt in Dublin 1995 für die Qualifikation. Zudem muss man das polnische Team loben, dass man in diesem Jahr nicht zu sehr in die CGI- und Trickkiste gegriffen hat, um einen eigentlich tollen Beitrag kaputtzuspielen.
Als letzter Act qualifizierte sich die Ukraine für das Finale am Samstag. Allgemein ist man sich einig, dass "Bird of pray" von Ziferblat der schwächste ukrainische Beitrag seit Jahren ist. Retroklamotten und zwei Bild-Ton-Breaks machen eben noch keinen guten Auftritt aus, die Solidarität für die Ukraine und die mittlerweile in Europa verteilte Bevölkerung dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die Ukraine ihren Streak von 100% um ein weiteres Jahr verlängert. Am Samstag prognostiziere ich hier allerdings ein recht maues Ergebnis.
Zwischen den Halbfinalisten tummelten sich dann noch Italien, Spanien und die Schweiz, die ihre Titel für Samstagabend bewerben durften. Melody erschien mir stärker als vermutet, die Show war großartig, die Machart genau im Sinne klassischer Eurovisionsbeiträge, dennoch fürchte ich, dass es nur Kost für einen kleinen Kreis an Fans ist und von den 200 Millionen Zuschauern mehrheitlich links liegen gelassen wird. Italien halte ich indes für unterschätzt, Lucio Corsi hat einen Sepia-Filter auf den Beitrag gelegt und macht seine Sache gut. Die drei Minuten sind so flauschig verzogen, als wäre man in einen Bademantel eingewickelt vor dem Kamin aufgebahrt.
Gegen Ende war auch Zoë für die Gastgeber außer Konkurrenz dabei und hat eine ganz intime Kulisse geschaffen, dadurch das die Bühne nahezu völlig abgedunkelt war und die Kameraführung aus einer einzigen Aufnahme bestand. Leider kackte eben diese Kamera kurzzeitig ab, der Zurückgenommenheit und gemütlichen Atmosphäre von "Voyage" tut dies allerdings keinen Abbruch und wenn es bei der Generalprobe schief geht, kann es bei der Premiere am Samstagabend eigentlich nur besser werden.
Zuletzt noch ein Wort zu Claude aus den Niederlanden, der zwar einen englisch-französischen Grundkurs sang, aber emotional und melodisch sehr berührte. Da stimmte alles und ich freue mich, dass er die Töne auch gut getroffen hat, sein Finaleinzug dürfte die Niederländer zufrieden stellen, nachdem sie im letzten Jahr disqualifiziert wurden, weil sich ein Unsympath nicht zu benehmen wusste. Insgesamt lag meine Trefferquote in diesem Halbfinale nur bei 7/10, in der Summe geht das Ergebnis aber in Ordnung.
Da nach dem Halbfinale vor dem Halbfinale ist, geht es in Basel heute Nachmittag schon wieder weiter. Die erste Generalprobe für das zweite Halbfinale steht bevor, am Abend treten die 16 Interpreten sowie die Big Five-Acts aus Deutschland, Frankreich und dem UK erneut im Juryfinale auf. Alle Informationen zum zweiten Halbfinale werden wir wie üblich um Mitternacht in einem Posting zusammenfassen, alle sich im Laufe des Tages ergebenden Neuigkeiten werden wir ebenso zeitnah nachliefern.