Dienstag, 29. März 2022

Memories: Eurovision Song Contest 1986


Norwegen
- Es war der 3. Mai 1986, eine Woche nach dem folgenschweren Reaktorunglück von Tschernobyl, als der Eurovision Song Contest erstmals im norwegischen Bergen ausgerichtet wurde. NRK reservierte für die Veranstaltung die Grieghalle, benannt nach dem Komponisten Edvard Grieg, von dem noch heute populäre Werke wie "In der Halle des Bergkönigs" stammen. Es war der bis heute, nördlichste Ort, an dem je eine Eurovision ausgetragen wurde. Moderiert wurde der Abend von Åse Kleveland, die 1966 mit "Intet er nytt under solen", der ein sehr frostiges Auftreten diagnostiziert wurde und die später das Amt der norwegischen Kulturministerin besetzte. 

Generell hielten sich die Lobeshymnen für diesen Song Contest in der deutschen Presse in Grenzen. So hieß es in einem Artikel u.a. "Die kahle Bühne frostig wie ein Eisberg, die norwegische Ansagerin ohne jede Ausstrahlung, der Ablauf der drei Stunden zäh wie Elch-Leder." Und das alles vor den Augen des norwegischen Königshauses, denn erstmals in seiner Geschichte wurde der Song Contest in Bergen unter royaler Aufsicht ausgetragen, der damalige Kronprinz Harald V., Kronprinzessin Sonja und deren Kinder waren mit dabei, als 20 Nationen ihre Titel für das europäische Publikum feilboten. Nicht mit dabei waren Griechenland und Italien, dafür kehrten die Niederlande und Jugoslawien zur Veranstaltung zurück.

Griechenland verzichtete auf die Entsendung eines Interpreten, da der Termin des Wettbewerbs mit dem orthodoxen Osterfest kollidierte. Die nach eigenen Angaben ausgewählte Sängerin Polina durfte folglich nicht über Schlafwagen ("Wagon-lits") singen, ERT strahlte den Song Contest aber dennoch aus und kehrte 1987 zurück. Bei Italien war die Situation eine andere, dort verzichtete man, wie schon einige Jahre zuvor freiwillig, da sich die RAI zu erhaben fühlte, um dieser Klamaukveranstaltung beizuwohnen, hier hielt die Abstinenz von der Eurovision wieder mal nur ein Jahr, auch Italien war 1987 wieder mit von der Partie.

Dafür kam es zum Debüt Islands. Das isländische Fernsehen RÚV plante schon Jahre zuvor, am Song Contest teilzunehmen, musste aufgrund einer fehlenden konstanten Übertragung zum europäischen Festland allerdings auf die Einführung einer Satellitenverbindung warten, da man die Punkteübertragung per Telefon nicht gewährleisten konnte. Seither ist Island aber fester Bestandteil der Eurovisionsfamilie, das dem Sieg schon zweimal sehr nahe kam. Allerdings nicht im Jahr 1986, die ersten nordischen Klänge von ICY mit "Gleðibankinn" verhallten und endeten auf dem 16. Platz. Die Gruppe, zu der Eiríkur Hauksson gehörte, war eine recht kurzlebige Formation, die danach nicht mehr weiter in Erscheinung trat.

Eröffnet wurde das Teilnehmerfeld von Sherisse Laurence für Luxemburg. RTL kaufte sich wieder einmal im Ausland, diesmal in Kanada, ein und präsentierte mit "L'amour de ma vie" eine der großen Balladen, die dem 80er-Stil voll und ganz entsprachen. Das fanden auch die Juroren, die Luxemburg im Ranking bis auf den dritten Platz hochschnellen ließen. Obwohl sie nur Bronze holte, machte sie auf sich aufmerksam, war ihr Lied über die Liebe ihres Lebens doch der insgesamt 500. Beitrag, der bei dem Eurovision Song Contest aufgeführt wurde. Knapp an dieser Marke vorbei schrammte Doris Dragović in jugoslawischen Diensten, die im Anschluss den ungnädigen zweiten Startplatz bezog.

Doris Dragović war zunächst Sängerin der Gruppe More, ehe sie 1986 als Solistin durchstartete und sogleich den jugoslawischen Vorentscheid in Priština gewinnen konnte. "Željo moja" ("Mein Traum") belegte den elften Platz, legte aber den Grundstein für ihre bis heute anhaltende Karriere. Sie wurde zu einer der bekanntesten Interpretinnen Kroatiens und durfte 1999 noch einmal, dann auch wesentlich erfolgreicher, zum Song Contest nach Jerusalem fahren. Nur einen Rang besser platzierte sich Spanien, das mit der Gruppe Cadillac eine Band zur Eurovision schickte, die in ihrer Endphase steckte. 1981 von Sänger José María Guzmán gegründet, war "Valentino", das den zehnten Platz belegte, der letzte große Auftritt, ehe die Band sich wenig später auflöste.

Noch schlechter lief es für die lusitanischen Nachbarn. Portugal schickte die 1966 in Lissabon geborene Dora Maria Reis Dias de Jesus, kurz Dora. Ihr Lied war nicht der Rede wert, dafür aber das geschmacklose Outfit der Interpretin, schwarzes Oberteil und ein weißer Rock mit gelbem Unterbau, der schon ein wenig danach aussah, als hätte Oma es schon längere Zeit versäumt, ihre Gardinen zu waschen. "Não sejas mao p'ra mim" war ein Versuch, mal ohne balladige Klänge zu überzeugen, RTP scheiterte gnadenlos. Dora erhielt zu ihrer Ehrenrettung zwei Jahre später noch einmal die Gelegenheit sich beim Song Contest zu präsentieren, dann mit dem viel eingängigeren und fast schon epischen "Voltarei".

Besser lief es da für die skandinavischen Nationen. Allen voran Schweden und Dänemark. Monica Törnell und Lasse Holm warfen die Frage "E' de' det här du kallar kärlek?" auf, die Performance um einen oberkörperfreien Gitarristen, der u.a. von einem Zimmermädchen und einem Herren im Schwimmkostüm umgarnt wurde, lässt viel Raum für Interpretationen offen, den Juroren hat es der leicht verrockte Titel aber gefallen, femte plats. Nur einen Rang dahinter landete Dänemark, das mit "Du er fuld av løgn" genau das lieferte, was man von den Dänen erwartete, nämlich netten Pop, der keinem weh tut, höchstens dem, an den das Lied gerichtet ist, Lisa Haavik zögerte nämlich nicht, ihrem Angetrauten zu unterstellen, er sei voller Lügen.

Akzente setzten hingegen die Gastgeber. Norwegen schickte Ketil Stokkan mit einem Lied über die Shakespeare-Figur "Romeo". Das Besondere war hingegen nicht das eher seichte Liedchen, sondern die Performance, an der der erste Travestie-Künstler auf der Bühne stand. Denn seine beiden Tänzer, die Romeo und Julia verkörperten, waren beides Männer. Olav Klingen spielte den Romeo und Jonny Nymoen die Julia. Dieser Auftritt war seiner Zeit weit voraus, heute kann man sich dem Geschlecht des Interpreten vielerorts nicht mehr gewiss sein, damals war es eine ambitionierte Premiere, die Norwegen allerdings nur Platz zwölf einbrachte. Ketil Stokkan 1990 zum Song Contest zurück, holte dann allerdings die rote Laterne.

Kari Kuivalainen
sang für Finnland "Päivä kahden ihmisen", das ursprünglich für die Sängerin Kaija Koo gedacht war. Dirigiert wurde sein Beitrag von Ossi Runne, der sein 20. Jubiläum in Bergen feierte. Für die Eurovision gab er seinem Lied den englischen Titel "Never the end". Kari lieferte dramatisch ab, wurde von den Juroren aber nur auf den 15. Platz durchgereicht. Womit er immer noch erfolgreicher abschnitt als die französische Damenformation Cocktail Chic, die in erdfarbenen Mänteln einen gelangweilten Titel namens "Européennes" präsentierten und eine spätrömische Dekadenz an den Tag legten, indem man den Eurovision Song Contest nur noch als Pflichtveranstaltung sah und sich dementsprechend wenig ins Zeug legte.

Grundsätzlich zog dieser Eurovision Song Contest viel Kritik auf sich, weil vieles gleich klang und der nötige Pfeffer in diesem Jahrgang fehlte. Dies kann man auch auf den deutschen Vorentscheid in München beziehen. Dort moderierte Wencke Myhre (mit dem wunderbaren Versprecher "Die Wahl der Qual") neben Sabrina Lallinger ein überschaubares Teilnehmerfeld, in dem man u.a. Joy Fleming, die Dschinghis Khan Family aber auch das grandiose "Rein und klar wie's früher war" von Mister Fisto. Zwei Astronauten, ein Tänzer der völlig "over the top" war und ein barocker Damenbegleitchor lieferten eine Show, die aus heutiger Sicht genial, damals aber nur den elften Platz wert war.

Am Ende gewann Ingrid Peters aus dem saarländischen Dudweiler das demoskopische Voting von 500 Personen, nach mehreren Anläufen und auch mehreren Single-Erfolgen mit Liedern wie "Komm' doch mal rüber" oder "Afrika". "Über die Brücke geh'n" von Hans Blum, besser bekannt als Henry Valentino, war textlich eine Verlängerung von Nicoles Siegerlied "Ein bißchen Frieden", es ging um eine bessere Welt, ein Blick über die Mauern (vermutlich des Eisernen Vorhangs) und den Abbau von Vorurteilen und Kaltherzigkeit. Leider wurde der Titel mit dem achten Platz stark unterbewertet. Kommerziell gesehen war es für Ingrid Peters der letzte kommerzielle Chartserfolg, der in deutschen Fankreisen allerdings Kultstatus genießt.

Österreich ließ sich von Timna Brauer, der Tochter des bekannten Liedermachers und Künstlers Arik Brauer ("Sein Köpferl im Sand") vertreten. Den Text zu "Die Zeit ist einsam" steuerte Peter Cornelius bei, dem aber scheinbar auch nichts Kreatives einfiel. Das Lied zog sich wie Kaugummi und auch die Juroren hatten dafür nur zwölf Punkte übrig. Dahinter fanden sich lediglich Israel mit dem Duo Moti Giladi & Sarai Tzuriel mit dem noch drögeren "Yavoh yom" und die griechische Sängerin Elpida, die mit "Tora zo" in zypriotischen Diensten unterwegs war und nach 1979 ihre zweite Song Contest-Teilnahme verbuchte. Hätte sie es bleiben lassen, wäre ihr der letzte Platz mit mageren vier Punkten erspart geblieben...

Weiter vorne lagen die Türkei, deren Gruppe Klips ve Onlar tagesaktuell über den Halleyschen Kometen sangen, der sich 1986 in Erdnähe befand und errechneterweise erst im Jahr 2061 von der Erde aus sichtbar sein wird und die britische Gruppe Ryder, die mit "Runner in the night" selbst im UK keine großen Erfolge erzielen konnten und dort nur auf die #98 der Charts einstiegen. Trotzdem erreichte Ryder den siebten Platz. Noch besser lief es für die, in Pink gekleidete Sängerin June Cunningham als Frontsängerin der nordirischen Gruppe Luv Bug. "You can count on me" erreichte den vierten Platz in Bergen, der einzige nennenswerte Erfolg der Band. Es folgten einige kleinere Singleerfolge, ehe sich die Gruppe in den 90ern auflöste.

An der Spitze duellierten sich hingegen die beiden Gründungsmitglieder der Eurovision, nämlich die Schweiz, vertreten durch die Sängerin Daniela Simons, die zwei Jahre zuvor den Wettbewerb "La grande Chance" des Senders Télévision Suisse Romande gewann und nun mit der von Nella Martinetti mit einem Text gekleidete "Pas pour moi" in Bergen auftrat. Martinetti und der Komponist Atilla Şereftuğ sammelten hier schon einmal Erfahrungen, zwei Jahre später sollten sie einer gewissen Céline Dion zu Weltruhm verhelfen. Daniela Simons allerdings ging als schlechte Verliererin in die Song Contest-Geschichte ein, legte sie doch später Protest gegen den Sieg der belgischen Interpretin Sandra Kim ein.

Die belgische Delegation mogelte nämlich, was das Alter der Interpretin Sandra Kim anging. Offiziell gemeldet wurde die Sängerin aus Saint-Nicolas in der Provinz Lüttich als 15jährige. Tatsächlich, wie sich unmittelbar nach ihrem Song Contest-Sieg herausstellte, war sie allerdings erst 13 Jahre alt. Simons war nicht einverstanden gegen ein Kind verloren zu haben, die Europäische Rundfunkunion schmetterte die Einwände allerdings ab. Und so kam, sah und siegte ein kleines Mädchen aus der Provinz mit dem farbenfrohen, aber auch im Stile der 80er, sehr flachen "J'aime la vie" für Belgien. Ob der Schulterpolster, auf die eine Joan Collins neidisch wäre, und der bis zur Unkenntlichkeit überschminkten Sängerin wäre es selbst mit der Radiokarbonmethode unmöglich gewesen, Sandra als 13jährige zu enttarnen.

Für Belgien war es der erste und bis heute auch einzige Sieg des Landes. Nunmehr hatten alle Nationen, wie 1956 beim ersten Eurovision Song Contest in Lugano dabei waren, einmal gewonnen. Ihr Sieg war später aber auch einer der Mitgründe, warum die EBU das Mindestalter für den Eurovision Song Contest auf 16 Jahre anhob, wenngleich Ende der 90er noch wesentlich jüngere Kinder für einige Länder ins Rennen gingen. Sandra Kim zehrt noch heute von ihrem Song Contest-Sieg, schließlich hat sie durch die Anhebung der Altersgrenze auch einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt. Es folgten einige weitere Singles, zuletzt sah man sie im November 2020 als Siegerin von "The Masked Singer".

Der Eurovision Song Contest setzte im Folgenden seine Reise durch Westeuropa fort, 1987 sollte das Königreich Belgien erstmals in den Genuss der Veranstaltung kommen, ausgerichtet durch das wallonische Fernsehen, das den Eindruck bestätigte, dass die französischsprachigen Titel bei der Eurovision besser ankamen als die des flämischen Fernsehens. Anzumerken gilt abschließend noch, dass das norwegische Fernsehen eine sehr klare, aber auch unnahbare kühle Veranstaltung inszenierte, die nichts mehr mit dem Zauber einer Lill Lindfors im Jahr zuvor gemein hatte. Dies wurde auch durch den glockenklaren Gesang der Interval-Interpretin Sissel Kyrkjebø bestätigt, die im Folgenden eine große Karriere als Sopranistin startete.

Die Teilnehmer:
01. - 176 -Sandra Kim - J'aime la vie
02. - 140 -Daniela Simons - Pas pour moi
03. - 117 -Sherisse Laurence - L'amour de ma vie
04. - 096 -Luv Bug - You can count on me
05. - 078 -Monica Törnell & Lasse Holm - E’ de’ det här du kaller kärlek?
06. - 077 -Lise Haavik - Du er fuld af løgn
07. - 072 -Ryder - Runner in the night
08. - 062 -Ingrid Peters - Über die Brücke geh'n
09. - 053 -Klips ve Onlar - Halley
10. - 051 -Cadillac - Valentino
11. - 049 -Doris Dragović - Željo moja
12. - 044 -Ketil Stokkan - Romeo
13. - 040 -Frizzle Sizzle - Alles heeft ritme
14. - 028 -Dora - Não sejas mau p'ra mim
15. - 022 -Kari Kuivalainen - Päivä kahden ihmisen
16. - 019 -ICY - Gleðibankinn
17. - 013 -Cocktail Chic - Européennes
18. - 012 -Timna Brauer - Die Zeit ist einsam
19. - 007 -Moti Giladi & Sarai Tzuriel - Yavoh yom
20. - 004 -Elpida - Tora zo