Sonntag, 27. März 2022

Eurovision am Sonntag (68)


Europa
- Die Woche ist um, die Uhren vorgestellt und die 50-Tages-Marke bis zum Eurovision Song Contest überwunden. Wir stecken mitten in unseren Previews, heute haben wir den estnischen Beitrag als Thema und auf diversen Song Contest-Websites wird diskutiert, gerankt und bewertet. Dabei muss man stets differenzieren, zwischen den bisherigen Eindrücken, die durch die Musikvideos bzw. Auftritte bei nationalen Vorentscheiden entstanden und den tatsächlichen Auftritten in Turin. Die Probenwoche bringt meist noch einmal viel durcheinander.

Wollen um jeden Preis nach
Turin: Kalush Orchestra
In diesem Jahr könnte dies umso mehr passieren, da es bisher keinen klaren Siegesanwärter gibt. Wenn wir die Wettquoten zu Rate ziehen findet man dort seit Wochen den ukrainischen Beitrag "Stefania" an der Spitze, derzeit mit einer Siegwahrscheinlichkeit von 35%, gefolgt von Italien (15%), Schweden (12%) und dem Vereinigten Königreich (5%). Dass die Bewertungsgrundlage natürlich auch mit der enormen Solidarität für die Ukraine zusammenhängt, dürfte jeder Laie erkennen. Trotz allem ist "Stefania" zudem kein schlechter Beitrag. Selbst ohne die große Anteilnahme hätte es die Ukraine mit Leichtigkeit ins Finale geschafft.

Der Titel sticht im diesjährigen Teilnehmerfeld positiv hervor und wird viele Stimmen auf sich vereinen können. Wie sehr die Juroren auf ukrainischen Folk-Rap stehen, wird sich im Mai zeigen, das Televoting dürfte die Ukraine jedoch extrem beflügeln. Das Kalush Orchestra hat in einer Grußbotschaft in dieser Woche noch einmal betont, wie gewillt man ist, am Song Contest aufzutreten. Und so wird in Fanforen bereits debattiert, was bei einem möglichen dritten Sieg der Ukraine geschieht. Die Europäische Rundfunkunion hat in der Vergangenheit immer wieder schwierige Situationen gemeistert und selbst im Falle eines ukrainischen Sieges würde man ein Konzept ausarbeiten.

In Deutschland sind Wetten
auf Unterhaltungs-
formate verboten
Hinzu kommt, dass man die Wettquoten von Leuten generiert werden, die Geld investieren und wie an der Börse auf Gewinne spekulieren. So ist es nicht verwunderlich, dass neben der Ukraine aus bekannten Gründen, die üblichen Verdächtigen Italien und Schweden im Ranking vorne stehen und klassischerweise Länder wie Slowenien oder Nordmazedonien ganz hinten liegen. Die Proben dürften alles noch einmal durcheinanderwirbeln. Daher haben wir die Wettquoten hier noch einmal zusammengefasst, um sie im Mai einmal vergleichen zu können. Deutschland liegt übrigens auf dem 24. Rang, also im Mittelfeld. Malik Harris dürfte seine Sache gut machen und mit der richtigen Inszenierung den allerletzten Plätzen im Finale entgehen.


Nimmt man jetzt noch die Fanvotings der App "My Eurovision Scoreboard" fallen doch einige Unterschiede zu den Wettquoten auf. Dort landet die Ukraine nämlich nur auf dem elften Rang, eingekeilt zwischen Zypern und Norwegen. An der Spitze liegt Chanel aus Spanien, die in den Wettquoten derzeit nur auf der #8 gehandelt wird. Es folgen Schweden, Italien und die Niederlande. Das Vereinigte Königreich, das mit TikTok-Artist Sam Ryder einen Hype ausgelöst hat, findet sich im Fanranking auf der 13 wieder. Am unteren Ende der Tabelle liegen Marius Bear aus der Schweiz, der in den Quoten auf der #14(!) steht, Circus Mircus aus Georgien und ganz hinten das Intelligent Music Project aus Bulgarien. Die Wahrheit dürfte irgendwo zwischen Fan- und Wettquoten liegen.

Bosnien wäre das einzige
 Land ohne ÖR-Rundfunk in
  Europa, sollte BHRT
Pleite gehen
Ein Land bleibt allerdings mal wieder außen vor, nämlich Bosnien-Herzegowina. Wie in dieser Woche berichtet, steht der nationale Staatsfunk BHRT kurz vor dem Ruin, Konten wurden gesperrt und die Website klix.ba meldet, dass die Gewerkschaft, die die Interessen des Senderpersonals vertritt, am morgigen Montag um 12 Uhr zum Streik aufruft. Arbeitnehmerverbände zeigen sich besorgt, angesichts des Stillstands, der vor allem politischer Natur ist. Das föderale System in Bosnien-Herzegowina gilt als kompliziertester Führungsapparat weltweit, die beiden Entitäten (Föderation Bosnien-Herzegowina und Republik Srpska) agieren weitgehend autark voneinander und haben beide lokale Rundfunkanstalten und somit nur geringes Interesse an einem gemeinsamen Rundfunk. 

Der Sender RTRS der Republik Srpska und des Distrikts Brčko hat es seit 2017 unterlassen, eingetriebene Gelder an BHRT zu zahlen, sodass BHRT in der Summe rund 63 Millionen Mark, sprich fast 32 Millionen Euro, fehlen um den Sendebetrieb aufrecht zu erhalten, Strom- und Gasrechnungen und vor allem seine Angestellten zu bezahlen. Seit 2017 gab es auch folgerichtig kein "Sarajevo calling" mehr beim Song Contest. Das Land nahm erstmals 1993, inmitten der Jugoslawienkriege an der Eurovision teil und erhielt, wie wohl nun auch die Ukraine in Turin, großen Zuspruch vom Publikum. Anders als heute gab es damals jedoch noch kein Televoting, sodass die europäische Anteilnahme sich nicht in Punkten widerspiegelte.

Flohen durch vermintes Gebiet
zum ESC nach Millstreet: Fazla
1993 erhielt Fazla mit seiner Begleitband zwölf Punkte aus der Türkei, dem zweiten Land, das abstimmen durfte. ARD-Kommentator Jan Hofer fragte sich damals schon, was denn wohl passieren würde, sollte Bosnien-Herzegowina gewinnen. So weit kam es nicht, am Ende siegten, wie damals üblich, die Iren. Aber schon damals hätte die Europäische Rundfunkunion alle Hebel in Bewegung gesetzt, den Song Contest an einem Ort mit stabilen Rahmenbedingungen auszutragen. Und so wird es gewiss auch noch im Jahr 2022 sein. Ob und wann jedoch wieder ein bosnischer Teilnehmer zu vermelden ist, bleibt ungewiss. BHRT ist wegen offener Rechnungen von den Diensten der EBU suspendiert und solange der Fortbestand des Senders unklar ist, wird es kein Comeback geben.

Ebenfalls kein Comeback wird es in diesem Jahr für den Barbara Dex-Award geben. Wie die Veranstalter von songfestival.be mitteilten, wird dieser Negativpreis ab sofort nicht länger vergeben. Damit endet eine 25jährige Tradition, bei der die Online-User die Chance hatten, dass zweifelhafteste Outfit zu bestimmen. 1997 wurde Debbie Scerri aus Malta die erste Würdenträgerin, gefolgt von Guildo Horn. Der letzte Barbara Dex-Award ging nach Norwegen. Der Preis 2021 wurde allerdings nicht mehr an das "schlechteste" sondern an das "außergewöhnlichste" Kostüm vergeben. Doch nur weil man an der Rezeptur schraubt, ändert das nicht das Verhalten der abstimmenden Menschen.

Auch einer der Preisträger:
Conan Osíris aus Portugal
Im Zuge der ewigen Debatten um Diskriminierung und Ausgrenzung, die in den letzten Jahren insbesondere durch die sozialen Medien zustande kamen, haben sich die Organisatoren nun dafür entschieden, den Wettbewerb gänzlich einzustampfen. Was in den 90ern und 2000ern mit Augenzwinkern in Fankreisen funktioniert hat, ist in Zeiten, in denen die Eurovision immer mehr zum Mainstream driftet, ob der auferlegten Korrektheit nicht mehr durchführbar. Mich betrübt dieser Umstand in gewissem Maße, einerseits weil es eben Tradition war, neben dem ESC-Gewinner auch einen Barbara Dex-Preisträger auszuwählen, zum anderen aber auch, weil es zeigt, wie empfindlich und kleingeistig die Gesellschaft geworden ist.

Ein Beispiel: Als ich jüngst bei Amazon Prime den Ustinov-Klassiker "Das Böse unter der Sonne" mit Filmgrößen wie Maggie Smith und James Mason aus dem Jahr 1982 anschaute, wurde explizit auf Schimpfwörter, Rauchen, Alkoholkonsum, sexuelle Inhalte und Gewalt hingewiesen, obwohl faktisch kaum etwas Verwerfliches in diesem Film geschieht. Als ob man bei einem Kriminalfilm oder jeglicher Unterhaltungsshow gleich ein FSK18 inszenieren muss. Insofern wundert es mich, dass es im Jahr 2022 überhaupt noch möglich ist, wie im Falle des lettischen Beitrags Zeilen wie "I'm a beast instead of a killer, forget the hot dogs, 'cause my sausage is just bigger, three, two, one, all the girls go eco, if you want your man's tongue longer than a gecko's" zu singen, ohne, dass jemand sich darüber brüskiert.

Sie wurde durch ihre
Trikotage unsterblich: 
Barbara Dex (1993)
Aber das gehört hier nicht her, es ging um Barbara Dex... Auch wenn der Preis der Goldenen Himbeere beim Song Contest entspricht, so hat er uns über viele Jahre unterhalten und großartige Preisträger hervorgebracht, Serbien, Nordmazedonien und Portugal haben das Ding sogar zweimal gewinnen können. Mit der Einstellung wird auch der Name Barbara Dex nun langsam in Vergessenheit geraten, wie auch im ESC-Update des NDR besprochen wird. 1993, im Jahr des bosnischen Debüts, wurde sie mit "Iemand als jij", einer ganz niedlichen Ballade Letzte. In Erinnerung geblieben ist allerdings vorrangig das selbstentworfene Kostüm, das der Beschreibung "Schattierungen von Beige" in Gänze entspricht, garniert mit quietschgelben Schuhen.

Momente wie diese wird es beim Eurovision Song Contest immer wieder geben, nicht zuletzt auch 2022, wo viele Beiträge es nicht über die erhabene Mittelmäßigkeit hinausschaffen und bestimmt wird sich der ein oder andere Interpret im Kleiderschrank vergreifen. Honoriert wird das ab sofort allerdings nicht mehr. Die Initiatoren haben angekündigt, in Zukunft einen neuen Preis zu vergeben, Namensvorschläge werden bis April angenommen. Mal sehen ob dieser Preis dann für Inklusion, Toleranz und Solidarität steht oder ob es wieder Feingeister geben wird, die sofort eine Wutrede in sozialen Netzwerken starten werden...