Europa - Die Woche ist um, die Uhren vorgestellt und die 50-Tages-Marke bis zum Eurovision Song Contest überwunden. Wir stecken mitten in unseren Previews, heute haben wir den estnischen Beitrag als Thema und auf diversen Song Contest-Websites wird diskutiert, gerankt und bewertet. Dabei muss man stets differenzieren, zwischen den bisherigen Eindrücken, die durch die Musikvideos bzw. Auftritte bei nationalen Vorentscheiden entstanden und den tatsächlichen Auftritten in Turin. Die Probenwoche bringt meist noch einmal viel durcheinander.
Wollen um jeden Preis nach Turin: Kalush Orchestra |
Der Titel sticht im diesjährigen Teilnehmerfeld positiv hervor und wird viele Stimmen auf sich vereinen können. Wie sehr die Juroren auf ukrainischen Folk-Rap stehen, wird sich im Mai zeigen, das Televoting dürfte die Ukraine jedoch extrem beflügeln. Das Kalush Orchestra hat in einer Grußbotschaft in dieser Woche noch einmal betont, wie gewillt man ist, am Song Contest aufzutreten. Und so wird in Fanforen bereits debattiert, was bei einem möglichen dritten Sieg der Ukraine geschieht. Die Europäische Rundfunkunion hat in der Vergangenheit immer wieder schwierige Situationen gemeistert und selbst im Falle eines ukrainischen Sieges würde man ein Konzept ausarbeiten.
In Deutschland sind Wetten auf Unterhaltungs- formate verboten |
Nimmt man jetzt noch die Fanvotings der App "My Eurovision Scoreboard" fallen doch einige Unterschiede zu den Wettquoten auf. Dort landet die Ukraine nämlich nur auf dem elften Rang, eingekeilt zwischen Zypern und Norwegen. An der Spitze liegt Chanel aus Spanien, die in den Wettquoten derzeit nur auf der #8 gehandelt wird. Es folgen Schweden, Italien und die Niederlande. Das Vereinigte Königreich, das mit TikTok-Artist Sam Ryder einen Hype ausgelöst hat, findet sich im Fanranking auf der 13 wieder. Am unteren Ende der Tabelle liegen Marius Bear aus der Schweiz, der in den Quoten auf der #14(!) steht, Circus Mircus aus Georgien und ganz hinten das Intelligent Music Project aus Bulgarien. Die Wahrheit dürfte irgendwo zwischen Fan- und Wettquoten liegen.
Bosnien wäre das einzige Land ohne ÖR-Rundfunk in Europa, sollte BHRT Pleite gehen |
Der Sender RTRS der Republik Srpska und des Distrikts Brčko hat es seit 2017 unterlassen, eingetriebene Gelder an BHRT zu zahlen, sodass BHRT in der Summe rund 63 Millionen Mark, sprich fast 32 Millionen Euro, fehlen um den Sendebetrieb aufrecht zu erhalten, Strom- und Gasrechnungen und vor allem seine Angestellten zu bezahlen. Seit 2017 gab es auch folgerichtig kein "Sarajevo calling" mehr beim Song Contest. Das Land nahm erstmals 1993, inmitten der Jugoslawienkriege an der Eurovision teil und erhielt, wie wohl nun auch die Ukraine in Turin, großen Zuspruch vom Publikum. Anders als heute gab es damals jedoch noch kein Televoting, sodass die europäische Anteilnahme sich nicht in Punkten widerspiegelte.
Flohen durch vermintes Gebiet zum ESC nach Millstreet: Fazla |
Ebenfalls kein Comeback wird es in diesem Jahr für den Barbara Dex-Award geben. Wie die Veranstalter von songfestival.be mitteilten, wird dieser Negativpreis ab sofort nicht länger vergeben. Damit endet eine 25jährige Tradition, bei der die Online-User die Chance hatten, dass zweifelhafteste Outfit zu bestimmen. 1997 wurde Debbie Scerri aus Malta die erste Würdenträgerin, gefolgt von Guildo Horn. Der letzte Barbara Dex-Award ging nach Norwegen. Der Preis 2021 wurde allerdings nicht mehr an das "schlechteste" sondern an das "außergewöhnlichste" Kostüm vergeben. Doch nur weil man an der Rezeptur schraubt, ändert das nicht das Verhalten der abstimmenden Menschen.
Auch einer der Preisträger: Conan Osíris aus Portugal |
Ein Beispiel: Als ich jüngst bei Amazon Prime den Ustinov-Klassiker "Das Böse unter der Sonne" mit Filmgrößen wie Maggie Smith und James Mason aus dem Jahr 1982 anschaute, wurde explizit auf Schimpfwörter, Rauchen, Alkoholkonsum, sexuelle Inhalte und Gewalt hingewiesen, obwohl faktisch kaum etwas Verwerfliches in diesem Film geschieht. Als ob man bei einem Kriminalfilm oder jeglicher Unterhaltungsshow gleich ein FSK18 inszenieren muss. Insofern wundert es mich, dass es im Jahr 2022 überhaupt noch möglich ist, wie im Falle des lettischen Beitrags Zeilen wie "I'm a beast instead of a killer, forget the hot dogs, 'cause my sausage is just bigger, three, two, one, all the girls go eco, if you want your man's tongue longer than a gecko's" zu singen, ohne, dass jemand sich darüber brüskiert.
Sie wurde durch ihre Trikotage unsterblich: Barbara Dex (1993) |
Momente wie diese wird es beim Eurovision Song Contest immer wieder geben, nicht zuletzt auch 2022, wo viele Beiträge es nicht über die erhabene Mittelmäßigkeit hinausschaffen und bestimmt wird sich der ein oder andere Interpret im Kleiderschrank vergreifen. Honoriert wird das ab sofort allerdings nicht mehr. Die Initiatoren haben angekündigt, in Zukunft einen neuen Preis zu vergeben, Namensvorschläge werden bis April angenommen. Mal sehen ob dieser Preis dann für Inklusion, Toleranz und Solidarität steht oder ob es wieder Feingeister geben wird, die sofort eine Wutrede in sozialen Netzwerken starten werden...