Freitag, 11. Februar 2022

Kommentar: Ein Vorentscheid mit jeder Menge Paprika


Deutschland
- Zögernd habe ich mich nun doch dazu entschlossen, mich zum deutschen Vorentscheid zu äußern. Gestern präsentierte uns das NDR-Gremium die Kandidaten für "Germany 12 Points", sechs Kandidaten, die sich dem Urteil der Zuschauer am 4. März stellen werden. Die Frage ist jedoch nicht, wer uns in Turin vertreten wird, sondern was schon wieder alles im Vorfeld schief gelaufen ist, dass man uns aus 900 Vorschlägen diese einheitliche Pampe servieren muss. Keines der Lieder hat ein Alleinstellungsmerkmal, vier von sechs Liedern sind maximaler Durchschnitt.

Nun hat uns die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt, dass man nicht viel erwarten darf, wenn es um den deutschen Song Contest-Beitrag geht. Und so ist es auch heuer wieder, bei den dargebotenen Liedern wage ich die These, dass keines der Werke auch nur ansatzweise in die Nähe des Ausrufs "Germany 12 Points" kommen wird. Das ist bitter, zumal ich nach der Ankündigung eines Vorentscheids doch wieder ein bisschen Hoffnung hatte, es könnte etwas dabei sein, was dem Gehörgang schmeichelt, Fehlanzeige!

Den einzigen Ausreißer, den ich nach erstmaligem Hören feststellen konnte, war "Rockstars" von Malik Harris, 24 Jahre aus Landsberg. Das Lied ist radiokompatibel, das stimmt, aber es ist eben auch kein "She got me", kein "Voilà", kein "Birds". Es klingt wie ein Lied, das Zoe Wees abgelehnt hat, weil es nicht den Qualitätsmerkmalen eines Erfolges entspricht. Vergleiche aus Foren, es sind Eminem-Vibes erkennbar, kann ich nicht bestätigen. Trotzdem, würde ich mich heute auf einen Titel für Turin festlegen müssen, wäre "Rockstars" das kleinste Übel. 

Der zweite Beitrag, über den es zu sprechen gilt ist "Hallo Welt". Es ist löblich, dass es auch mal wieder einen deutschsprachigen Titel zur Auswahl gibt, aber muss es ein Botschaftslied ohne Botschaft sein? Kennt jemand jemanden der jemanden kennt, der solche Lieder gerne anhört? Was wollen uns die Künstler mit "Das ist Nikki, sie ist‘n HipHop-Fan, hängt auf TikTok und Instagram, rackert sich ab für den Kardashian-Look, weil sie denkt, dass alles an ihr perfekt sein muss.", sagen? Zumal Markennennungen ohnehin nicht erlaubt sind, das wissen wir spätestens seit Valentina Monetta.

Das Hauptproblem an allen Beiträgen ist ihre Vergänglichkeit, sie bleiben nicht im Ohr, weil sie auf Radiotauglichkeit geeicht sind. Und das Medium Radio hat zwar eine große Reichweite, zuweilen Autofahrern und zur Untermalung von nötigen Haushaltsaktivitäten, zeichnet sich aber meist durch Lieder aus, auf die sich viele verständigen können, weil sie keinen stören. "Black smoke" hat damals auch niemanden gestört, deswegen ist der Titel bei vielen aus den Top Ten gerutscht, weil es Lieder gab, die interessant und irgendwo kantig waren, die bevorzugt wurden. Beim Song Contest gilt aber, dass auch der elfte Platz keine Punkte mehr bringt. 

Ich schätze, dass eben dieses Radio-Komitee, das sich der NDR ins Boot geholt hat, vor allem im eigenen Interesse gehandelt hat. Was kann man spielen, ohne aus dem musikalischen Leitbild des Senders auszubrechen. Da kommen Singer/Songwriter- und Seichtpop-Lieder natürlich wie gelegen, jegliche Abweichung von Standard-Radio wäre unerhört. Da die angebundenen Radiostationen sich in gewissem Maße zur "Heavy Rotation" verpflichtet haben und eben auch das Online-Voting organisieren, können sie es sich nicht leisten, Schlager, Hardrock, Folk und Klamauk zwischen "abcdefu" und "Shivers" zu spielen.

Der NDR hat den Vorentscheid so angekündigt, als gäbe man dem Pöbel wieder das Recht auf eine demokratische Auswahl für den Eurovision Song Contest. Was aber, wenn man sich nur zwischen roter Paprika, gelber Paprika und grüner Paprika entscheiden kann? Farbliche Nuancen zu verändern bringt noch lange keine Vielfalt in den Wettbewerb, geschmacklich bleibt es Paprika... und da man es sich scheinbar auf die Fahne geschrieben hat, bloß nicht zu gewinnen, wird dieser Vorentscheid, egal wer gewinnt, ebenso im Sande verlaufen, wie die vorherigen Auswahlen.

Der Eurovision Song Contest ist eben nicht Radio, schon 1956 wurde er initiiert um das Medium "Fernsehen" populär zu machen und nicht das Nordmende-Radio Transita 130. Prinzipiell sind beide Fraktionen grundverschieden. Wie oft hört man Song Contest-Beiträge, egal wie erfolgreich sie waren, im Radio? Hier und da läuft "Euphoria", bei Radio Hamburg taucht ab und an Elaiza auf, aber da hört's dann meist auch schon auf. Selbst in Irland war der Eurosong in diesem Jahr facettenreicher, als das, was aus - ich betone es noch einmal - 900 Vorschlägen, in Deutschland ausgewählt wurde! Sollten dies die Trüffelpralinen der Auswahl sein, frage ich mich, wie wohl die anderen 895 Titel geklungen hätten...

Was den nicht selektierten Bewerbern bleibt ist die Anonymität. Als etablierter Künstler möchte ich auch nicht in der Presse stehen mit den Worten "Gegen diese 6 hat XY verloren". Man wirft den Deutschen stets vor, alles zu kritisieren und immer nur zu meckern, aber in diesem Fall bleibt einem auch fast nichts anderes übrig. Das Motto der Europäischen Union lautet "In Vielfalt geeint", ein Satz, über den man beim Norddeutschen Rundfunk einmal nachdenken sollte, wenn man überlegt, welche Gruppen man alle hätte ansprechen können. Es ist eben jene die Vielfalt, die dem Zuschauer 2022 verwehrt bleibt.

In der Vorberichterstattung habe ich es vermieden, den selbst kreierten Sturm im Wasserglas um die Gruppe Eskimo Callboy zu pushen. Sie haben sich beworben und man kann stilistisch von ihnen halten was man will, aber sie hätten zu mehr Vielfalt beigetragen. Vor 22 Jahren gab es diese Vielfalt. Damals gewann Stefan Raab klar und deutlich, aber die Zuschauer hatten die Auswahl zwischen einem Dancefloor-Project namens E-Rotic, Hamburger Schnauze á la Lotto King Karl, Siegel-Schlager von Corinna May, Blödsinn ("Ick wer zun Schwein"), Altherren-Schlager ("We can move a mountain", Fancy) und sphärischem Pop namens "Bitter blue".

Wie es ein bekannter irischer Truthahn mal treffend formuliert hat, irgendwann ist man bei der Eurovision falsch abgebogen und seither läuft alles falsch. Dabei hat der NDR so viel Potenzial, man hat sich aber wieder einmal in seinem Konzept verrannt und verschwendet ab jetzt nur noch unnötig Energie, denn dieser Jahrgang ist aus deutscher Sicht schon beendet, ehe er richtig begonnen hat. Nun möge wenigstens Malik Harris gewinnen und den Kollateralschaden der Radioauswahl soweit begrenzen, als dass wir zumindest in der Summe von "Germany 12 Points" sprechen können...