Samstag, 1. Juli 2017

Brown Cocktail: Moves like Jagger



Europa - Diese Woche gab es den Beschluss, dass das große ß nun offiziell als Buchstabe im deutschen Sprachgebrauch gilt, die Berliner BVG war kurz davor U-Boote für den ÖPNV einzusetzen und gestern kurz nach neun Uhr morgens gab's die "Ehe für alle". Ich habe ein paar Business-Flüge nach New York verkauft und das Fernsehprogramm bestach maximal durch "500 - Die Quizarena" mit Günther Jauch. So viel zur aktuellen Lage der Nation, nun ist es wieder an der Zeit für einen Cocktail.


Mick Jagger verkaufte un-
zählige Vinylscheiben
In der heutigen Abstimmung liegt das Motto "Moves like Jagger" vorne, Maroon 5 feat. Christina Aguilera haben uns 2010 einen Welthit geliefert, in dem es u.a. "Take me by the tongue and I'll know you" heißt. Wir analysieren heute zwar nicht die musikalische Karriere des Rolling Stones-Sängers, blicken aber auch einige seiner Attitüde, analysieren die Moves einiger Eurovisionskandidaten, schauen, welcher Kuss auf der Bühne der schönste war und welche grotesken und genialen Choreographien es in 62 Jahren Eurovision Song Contest gab.

One kiss: Monika und
Vaidas aus Litauen (2014)
Bezüglich der Küsse hat sich der Eurovision Song Contest im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Zwar gab es schon in den Anfangsjahren einen dänischen Kuss, der sekundenlang die Leute hinter den Kameras schockierte und in einigen übertragenden Nationen einen Skandal auslöste, heute wäre dies aber fast schon Usus einer Darbietung, die vom Lied ablenken soll. Auch gab es in den letzten Jahren vermehrt homosexuelle Küsse, jüngstes Beispiel lieferten hier im Jahr 2015 die Litauer. Monika Linkytė und Vaidas Baumila gaben sich während sie "This time" aufführten einen Kuss, ihre Backings, je zwei Buben und zwei Mädels küssten sich ebenfalls.

Ging in der Türkei gar nicht:
Krista Siegfrids für Finnland
Für erzkonservative Kräfte ist dies der Inbegriff von Sodom und Gomorrha, beim Eurovision Song Contest sorgt dies aber maximal für ein entzücktes Lächeln. Die Gesellschaft ist inzwischen abgestumpft genug um einen Kuss zwischen Krista Siegfrids und ihrer Backingsängerin zu ertragen. Mit Ausnahme vielleicht einiger osteuropäischer Traditionalisten und türkischen Politikern, die das Ende der Welt kommen sehen. Gerade in Zeiten, in denen selbst auf den Färöer Inseln homosexuelle Paare heiraten dürfen, lockt man damit beim Eurovision Song Contest niemanden mehr hinter dem Ofen hervor.

True love: Ilinca und Alex
Bis auf Litauen 2015 haben Küsse allerdings selten im Mittelpunkt einer Eurovisionschoreographie gestanden. Matthías Matthíasson von der isländischen Formation Sjónnis Friends, die den Tribut-Song für ihren verstorbenen Freund und Vorentscheidungsteilnehmer sangen, schmatzte dem Gitarristen auf die Wange, die Navi Band beendete ihren Titel mit einem herzlichen Kuss und Alex Florea schockte seine Sangespartnerin Ilinca durch einen mehr als spontanen Abschleckvorgang nach dem Ende von "Yodel it". 

Immer gern gesehen: Hebe-
figuren wie bei Russland 2004
Viel interessanter sind da schon einige Choreographien, die im Laufe der Jahre über die TV-Bildschirme flackerten. Und was gab es nicht schon alles... einen Seitwärtsmove vom weißrussischen Kandidaten Teo, der darüber philosophierte, dass man ihn doch bitte nicht als "sweet cheesecake" bezeichnen möge und der es damit sogar in das Comedy-Programm von Stefan Raab schaffte, diverse Hebefiguren von Helena Paparizou über Kalomoira bis hin zu Julia Savicheva aus Russland. Dabei gilt zu beachten, stets die Stimme zu halten, auch wenn man von seinen Backings wild über die Bühne geschleudert wird.

Gil Ofarim und Ekaterina
Leonova
Tanja aus Estland
Eine wahre Gymnastikkönigin war in diesem Zusammenhang Tanja aus Estland. 2014 trat sie mit einem Tänzer in einem weißen Hauch von Nichts in Kopenhagen auf. Die gesamte Show war eine Mischung aus Contemporary-Tänzen á la "Let's dance", Aerobic und fast schon verstörender Wurftechniken, bei denen die arme Sängerin von ihrem Tänzer an den Beinen gepackt und über die Bühne geschleudert wurde. Rumänien hätte mit dieser Nummer Doppelgold im Turnen bei den Olympischen Spielen geholt, angesichts der doch eher dünnen Stimmkraft und des mittelmäßigen Popsongs gab es für Tanja jedoch nur das Aus im Semifinale.

Kippte fast aus den Latschen:
Christos Mylordos (2011)
Sehr beliebt, insbesondere bei zypriotischen Beiträgen sind vor allem Beinarbeiten. So trug Christos Mylordos 2011 in Düsseldorf Bleigewichte an den Schuhen um sich zur Seite kippen zu können, ohne dabei auf die Schnauze zu fliegen. Sechs Jahre später demonstrierte Hovig mit "Gravity" und gekonnter Beinarbeit die Gesetze der Schwerkraft. Während Christos im Halbfinale ausschied, gelangte Hovig mit der von Thomas G:son produzierten Schwedennummer immerhin ins Finale von Kiew. Beides waren keine klassischen Tanznummern, bestachen aber dennoch durch die Bewegungen. Ähnlich auch die sehr statische Top Five-Nummer von Loïc Nottet aus Belgien 2015.

Biegsam im Käfig:
Yüksek Sadakat (2011)
Eher weniger eignen sich Käfigtänze. Das erste mobile Gefängnis lieferte Polen im Jahr 2007. The Jet Set sperrten ihre Sängerin Sasha Strunin hinter Gittern weg. "Let's party, you got the right to party" machte zwar anfangs neugierig, die ganze Show war leider eine sehr aufgesetzte MTV-Nummer, die die Zielgruppe beim Song Contest nicht ansprach. 2011 hatten Yüksek Sadakat aus der Türkei eine Dame im Käfig dabei, auch sie schieden gnadenlos im Halbfinale von Düsseldorf aus, bislang das erste und einzige Mal, dass die Türkei nicht in der Endrunde vertreten war. Hätte Aserbaidschan nicht im gleichen Jahr gewonnen, wäre die Türkei aus Trotz schon 2012 nicht mehr dabei gewesen. So folgte der dauerhafte Rückzug erst mit einem Jahr Verzögerung.

Es rappelt im Karton:
Farid Mammadov
Nicht ganz so martialisch wie Käfige sind Boxen. Auf Anhieb fällt mir die sexy Performance von Ani Lorak aus der Ukraine ein, die von Phillip Kirkorow gecoacht wurde und vier Tänzer in Spiegelboxen auf der Bühne hatte. Ani belegte hinter Dima Bilan auch aufgrund der sehr starken Stimme und der Performance den zweiten Platz. Gleiche gilt für Farid Mammadov aus Aserbaidschan, der 2013 in Malmö einen Mann in einem Glaskasten auf die Bühne stellte, der synchron zu Farids Bewegungen in seiner Box agierte. Farid Mammadovs Delegation wird nachgesagt, dass sie damals Stimmen, u.a. in Malta und Litauen eingekauft hätten. 

Belegen konnte man bis zum heutigen Tage nicht, Aserbaidschan wurde jedoch in der Zukunft durch die EBU besonders überwacht, seither sanken die Platzierungen deutlich ab. Neben allerlei Tänzen, etwa einem Sirtaki bei Helena Paparizou zu "My number one" oder einem "Hora" von Nelly Ciobanu aus Moldawien, gab es auch immer wieder sehr schräge Tanzperformances oder zumindest Bewegungen. Die Frontsängerin der irischen Band Dervish beispielsweise legte eine sphärische Performance hin und waberte nur von links nach rechts, als hätte die das Diesseits bereits verlassen und befände sich in einer spirituellen Voodoo-Prozession. 

Kann man machen, muss
man nicht machen: Cosmos
Auch aus Lettland kam 2006 eine zweifelhafte Showeinlage. Während die Jungs der Vocal Band Cosmos ihr "I hear your heart" gänzlich ohne Musik intonierten und eine der schlimmsten A capella-Nummern aufführten, die ich jemals gehört habe, bastelten sie sich im Laufe der drei Minuten einen Roboter zusammen, der am Ende mit einem der Sänger den Moonwalk hinlegte. Es war die erste und mit Ausnahme von "With love" aus Belgien die einzige reine A capella-Nummer beim Song Contest. Dabei stellte sich heraus, dass das ebenfalls kein Genre ist, das beim Eurovision Song Contest aus der Masse hervorsticht.

Mit Lärm kommt man da schon weiter. Im gleichen Jahr wie Cosmos trat für das Nachbarland die Protestband LT United an. Was wie die Stadionhymne eines englischen Fußballclubs dienen könnte, war von den Litauern damals wahrlich ernst gemeint und bescherte dem bis dahin chronisch erfolglosen Land den besten Platz ihrer Geschichte. Maßgebend war dafür vielleicht die simple wie auch überzeugte Message "We are the winners", als auch der Ausraster eines bis dahin stummen Akteurs auf der Bühne, der aussah wie ein Verteidigungsminister, der plötzlich, als es zum Geigensolo kam völlig ausrastete und sich vor rund 200 Millionen Menschen zum Horst machte.

Goldene Boots und eine
Revolverchoreo: The Herreys
Etwas klassischer kamen da schon die Handbewegungen der Herreys daher, die mit ihren goldenen Schuhen und dem Tick-, Trick- und Tracklook den Eurovision Song Contest 1984 nach Schweden brachten. Die am häufigsten benutzte Geste beim Eurovision Song Contest, ob nun bei der Ballade mit großer Schlussnote oder dem powervollen Uptempo-Song ist ganz klar, am Ende des Liedes den Arm in die Höhe zu reißen, es ist fast schon ein ungeschriebenes Gesetz, dass mitteilt: "Mein Song ist vorbei, fangt an zu klatschen". Vor allem verleiht diese Bewegung dem Beitrag nach drei Minuten Spannungsaufbau den absoluten Höhepunkt-Effekt. 

"Rise your hand", Nayah
1999 in Jerusalem
Wie langwierig dieser Akt sein kann, zeigte uns die französische Sängerin Nayah 1999 in Jerusalem, die zu ihrem Chanson "Je veux donner ma voix" bei 2:47 Minuten anfing, ihre Schlussnote zu singen und dabei ganz langsam ihren Arm in die Höhe zu strecken. Für Nayah, die gebürtig Sylvie Mestre hieß und Mitglied des International Raëlian Movement, einer Bewegung ist, die sich dem UFO-Glauben hingibt, reichte es am Ende des Abends für den 19. von 23. Plätzen. Nach ihrer Teilnahme am Eurovision Song Contest wurde es sehr ruhig um Nayah, selbst bei weitergehender Recherche findet man kaum noch Einträge über sie...

Ganz großes Ballett:
Pául Oskar (1997)
Beim Eurovision Song Contest jedenfalls kommt es nicht nur auf den Song an. Manchmal reichen auch schon kleine Gesten, um einen Beitrag unvergesslich zu machen bzw. im Gedächtnis der Zuschauer hängen zu bleiben. Das kann der flammende Flügelschlag von Conchita Wurst sein, ebenso wie der Griff in den Schritt von Pául Oskar aus Island. Der Eurovision Song Contest bietet Fläche für ein- und ausladende Gesten, große und peinliche Showmomente, ohne die der Wettbewerb nicht mehr wäre als ein Konzert mehrerer Interpreten. Durch die geballte Ladung an visuellen Effekten und Gestiken ist der Song Contest aber bereits seit über 60 Jahren die erfolgreichste Unterhaltungssendung der Welt.



Poll: Und das Erfolgsformat nehmen wir auch in der kommenden Woche wieder in einem Cocktail auseinander. Zur Auswahl stehen diesmal "Fiddler on the roof", "Frischfleisch", "Lost & Found", "And finally..." und "Shakespeare". Viel Spaß beim Abstimmen, hier geht's zum Voting. Allen Lesern wünsche ich ein - hoffentlich trockenes, Wochenende.