Montag, 5. Januar 2015

Kommentar: Live Auditions und Online-Castings


Deutschland - Jede Eurovision Song Contest-Saison beginnt auf ganz unterschiedliche Art und Weise. 2015 "plagen" wir uns zunächst durch Vorrunden mit mehr oder weniger talentierten zypriotischen Interpreten und werden ab dem Wochenende auch wieder mit unzähligen Shows aus Litauen bombardiert, bis irgendwann zum Ende der Saison im März die Knaller-Vorentscheide aus Schweden oder Ungarn kommen.
 
Vor einigen Jahren war das noch anders, damals war Albanien die Auftaktnation, im Januar folgten fröhliche Melodi Grand Prix-Vorrunden in Norwegen und irgendwann folgten von Thomas Hermanns geführte deutsche Vorentscheide im Deutschen Schauspielhaus von Hamburg. Heute gibt es überall Online-Votings und Live Auditions. Heuer wurde schon in Weißrussland, Mazedonien und Malta abgehalten. Es ist gut, dass sich quasi jeder bewerben kann, dieses Ziel hatte sich Stefan Raab 2010 bei "Unser Star für Oslo" auch gesetzt, aber dort wurde zumindest eine Vorauswahl getroffen.
 
Heutzutage darf man in den Online-Vorentscheiden die ungefilterte Brutalität an Eigenkompositionen von Privatpersonen anhören, ob sie nun singen können oder nicht. Man kann zwar subjektiv für seine Favoriten abstimmen, angesichts der Masse fällt dies aber extrem schwer. Ich glaube, die wenigsten hören sich mal eben 200 Lieder in einer Schweizer Online-Auswahl an... ähnliche Verfahren gab es testweise aber auch schon 2008 in Spanien, damals gewann Roberto Chikilicuatre, mittlerweile geht man aus kostengründen interne Wege. Formate wie "Salvemos Eurovision" waren damals revolutionär, heute sind sie ausgelutscht.
 
Der Trend geht dennoch weg vom klassischen Vorentscheidungsmodell, hin zu einem Wettbewerb der jedem offensteht. Die Frage ist nur, ob sich das dauerhaft nicht auch auf die Qualität der Beiträge auswirkt. Ich muss zugeben, dass ich mir die meisten europäischen Vorrunden, ob nun in Litauen, der Schweiz oder Zypern gar nicht anschaue, lediglich mir vertraute Namen rufe ich hin und wieder auf.
 
Durch die Nutzung des Internets zeigen viele Rundfunkanstalten Europas, dass sie offen für neue Wege sind. In Schweden, dem Land mit einem der klassischsten Vorentscheide überhaupt, ist man inzwischen vom Online-Vorentscheid wieder abgerückt, die Künstler hatten gegen die namhaften Interpreten, die sich jedes Jahr im Melodifestivalen tummeln, keinerlei Chance.
 
Dass es auch die Underdogs, die noch keinen Plattenvertrag haben, gibt, die Erfolg haben können, zeigten Elaiza in Kopenhagen. Zugegeben, das Lied war rückblickend betrachtet, keine Offenbarung vor dem Herren, aber ganz anständig. Macht dieses Beispiel jedoch Karriere, treten am Ende nur die "netten" Beiträge bei der Eurovision an, für das musikalische Niveau der Show ist es jedoch nicht unbedingt förderlich, wenn der kleinste gemeinsame Nenner antreten darf. 
 
Jedes Showformat mag seine Vor- und Nachteile haben, interne Auswahlen, wie sie in Tschechien geplant sind, können vielleicht mehr bewirken, als eine zähe Vorrunde in Bulgarien, wie es sie vor einigen Jahren gab, als immer wieder Künstler aus und in die Show gewählt wurden. Eine klassische Dora in Kroatien kann ebenso einen guten Sieger hervorbringen, wie eine Operación Triunfo in Spanien oder ein ukrainischer Vorentscheid.
 
Dennoch verstehe ich diesen neumodischen Trend nicht, vieles im Vorwege ins Internet auszulagern. Außer Hardcore-Fans dürften sich wohl die wenigsten ernsthaft mit den Bewerbungen für das Clubkonzert in Hamburg auseinandersetzen. Ich glaube nicht, dass die breite Mehrheit, die den deutschen Vorentscheid schaut, wusste, dass es ein Clubkonzert und eine vorherige Internetabstimmung gab. 
 
2007 fand ich es interessanter morgens im Radio Ö3 zu erfahren, wer für Österreich zum Eurovision Song Contest fährt, als mir nun vorzustellen, wie über mehrere Wochen aus allen No Name-Interpreten einer ermittelt wird, der das Gastgeberland des 60. Eurovision Song Contests in Wien vertreten darf. Selbst österreichische Song Contest-Fans regen mittlerweile Protest gegen dieses fade Auswahlprinzip. Eric Papilaya hat es damals in Helsinki zwar auch zu recht wenig Ruhm gebracht, aber da war noch Vorfreude auf die Verkündung spürbar...
 
Wirklich abendfüllend und spannend sind diese Vorauswahlen leider nicht, ich setze mich lieber samstagabends vor den Livestream des dänischen oder norwegischen Melodi Grand Prix, wo es um Zahlen, Stimmen und ein endgültiges Ergebnis geht und nicht um die Bewertung einer Jury, wie auf Zypern, auf die sowieso vorerst niemand Einfluss hat. Für das seit Jahren durchgeführte Auswahlverfahren in der Schweiz gilt das Gleiche. Je länger die Show, desto mehr verliert sich meiner Meinung nach der Spannungsbogen. Das Livevoting bei Roman Lob einst war für mich weniger spannend als der Moment in dem die Kessler-Zwillinge 2007 "Roger Cicero" riefen.
 
Früher war es innovativ, weil neu. Heute nerven mich Live Auditions sowohl bei deutschen Castingshows und auch beim Eurovision Song Contest. Klar, man kann wunderbare Ergebnislisten nach dem Ende solcher Shows anlegen und teilen, aber wer hört sich die Beiträge tatsächlich im Vorwege alle an? Nach und nach kegeln die Rundfunkanstalten Europas Kandidaten aus ihren Vorentscheiden, am Ende bleibt einer übrig. Manchmal ist es so, dass man den Favoriten wochenlang im Voraus kennt.


Für die Eurovision würde ich mir persönlich für die Zukunft wieder die Rückkehr zu alten Mustern wünschen. Es soll nicht verstaubt sein, aber zumindest wieder so, dass man gerne mal einen ruckeligen Livestream anschaltet.