Mittwoch, 10. Juni 2015

Euronight: Toleranz liegt nicht auf der Straße


Europa - Der Eurovision Song Contest ist seit jeher eine Plattform für Homosexuelle. Bereits vor seinem "öffentlichen Coming-Out", wie der Sieg von Dana International 1998 in Birmingham damals genannt wurde. Dana setzte mit ihren 172 Punkten eine Marke und galt als Symbol für Frieden und vor allem Toleranz. Mit "Diva" landete sie einen Punktsieg und strafte die ultraorthodoxen Gruppierungen in ihrer Heimat ab, die sie am liebsten verhindert hätten. 
 
Seither gilt der Eurovision Song Contest im Volksglauben als primär homosexuelle Veranstaltung. Ein nicht unerheblicher Teil des jährlich anwesenden Publikums steht nicht auf Frauen, Erklärungen gibt es dazu viele, Thesen, das man sich in der Eurovisionsblase ausleben kann, völkerverbindend für Freundschaft und Toleranz einsteht und dabei immer noch eine ganze Menge Spaß mit Pailletten, Trashbeiträgen, großem Drama und einfach nur guter Musik hat. 
 
Der Eurovision Song Contest schafft das, was die große Politik nicht schafft. Da liegen sich ein libanesischer Fan und der israelische Sänger bei einer Pressekonferenz in den Armen, da gibt es Applaus für die russische Sängerin, unabhängig von den Repressalien, die Schwule und Lesben in ihrem Heimatland ertragen müssen, da spielt die Größe eines Landes keine Rolle, San Marino mit seinen knapp über 30.000 Einwohnern hat genauso viel Stimmanteil wie G7-Nationen, die in der Weltpolitik offen mitmischen. Und alles basiert auf einem: der Leidenschaft zur Musik.
 
Während immer wieder einige Beiträge politisiert werden, etwa der armenische Beitrag in diesem Jahr, der offenkundig auf den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich abzielte, hat man nunmehr den Eindruck, der Wettbewerb werde zu einer Plattform um für die Rechte homosexueller Menschen in Europa zu kämpfen. Den Höhepunkt dürfte dieses Empfinden mit dem Sieg von Conchita Wurst in Kopenhagen sein. Seitdem trägt sie ihre Message in die Welt hinaus, ob das dem russischen Provinzpolitiker nun gefällt oder nicht. Conchita hat den gleichen Symbolstatus, wie ihn eine Ruslana in der Ukraine hat.
 
Conchita wird auf dem CSD in Mailand erwartet. Dort findet parallel die Expo statt, zu der auch Wladimir Putin erwartet wird. Conchita erklärte, dass sie ihn gerne treffen würde: "Ich würde gern begreifen, warum die russische Regierung bestimmte Positionen bezüglich Zivilrechte und homosexuelle Partnerschaften eingenommen hat." Zu diesem Treffen wird es wohl nicht kommen. Die politischen Entscheidungswege Russlands sind nicht nachvollziehbar. Anders kann man es auch nicht erklären, dass ein Kommunalpolitiker sich über Polina Gagarina aufregt, die für ein kleines Wangenküsschen mit Conchita nun den Zorn der Worte erdulden muss.
 
Ihr wurde von Seiten eines Mitbegründers des Gesetzes gegen homosexuelle Propaganda in Russland vorgeworfen, sie hätte das Mutterland Russland verraten, in dem sie sich Conchita Wurst zugetan hätte und sich für ihre eigene Karriere ans Fernsehen verkaufe. Von Polina gab es hierzu bisher kein Statement, die Zweite von Wien dürfte jedoch in einem Zwiespalt stecken, in Wien herzlich empfangen, ganz im Sinne der Toleranz, die die Fans ihr entgegenbrachten, in Russland trotz ihres Achtungserfolges mit "A million voices" verhöhnt. Ob man ihr dieBotschaft ihres Liedes nun abnimmt oder nicht, sie hat einfach gut gesungen und das wird in Russland derzeit scheinbar überhaupt nicht anerkannt.
 
Musik ist mächtig, steht manchmal über den politischen Wirren. Tooji aus Norwegen beispielsweise präsentierte in dieser Woche den Titel "Father", in dessen Musikvideo er mit einem Priester in der Kirche rummacht. Erzkatholische Stimmen (in Norwegen) schlagen Alarm, sehen darin Sodom und Gomorrha, er selbst hat mit dieser Produktion seine Entscheidung getroffen, öffentlich homosexuell sein zu dürfen. Die Art und Weise, sich Gehör zu verschaffen, mag übertrieben dargestellt sein, seinen Moderationsposten für den Vorentscheid zum Junior Eurovision Song Contest musste er bereits abgeben, dennoch wollte auch er sich einfach nur Gehör verschaffen.
 
Måns Zelmerlöw, der schwedische Song Contest-Sieger von Wien erklärte nach seinem Triumph: "We are all heroes, no matter who we love." Leider leben wir in einer Welt, in der sich Toleranz für das Andersein noch nicht überall herumgesprochen hat und Lebensformen akzeptiert werden, die von der gesellschaftlichen Mehrheit abweichen. Auch hierzulande wird viel über die Homo-Ehe diskutiert, der eine bringt ein Argument hervor, der nächste argumentiert dagegen. So wird sich diese Spirale weiterdrehen, ohne Lösungsansätze höchstens mit Kompromissen. 
 
Der Eurovision Song Contest braucht keine Kompromisse, dort herrschen nicht die Gesetze eines bestimmten Landes. Dort kann man einfach sein, wie man ist und wird anerkannt, ob man nun eine Weltverbesserungshymne aus Russland singt, einen Uptemposong aus Israel oder eine lahme Ballade aus Irland. Egal wie gut oder schlecht ein Song bei der Eurovision ist, wie gut oder schlecht das Lied gesungen wurde, ob der Sänger schwarz, weiß, groß, klein oder behindert ist, der Interpret wird von den Fans mit warmem Applaus bedacht, da spielt die Landesflagge keine Rolle. 
 
Am Freitag beginnen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku die Europaspiele, eine vom Aliyev-Clan zur Imageaufbesserung ins Land geholte Sportveranstaltung, in der sich ähnlich wie beim Eurovision Song Contest die Nationen Europas gegenüberstehen und um den Sieg kämpfen, nicht mit Waffen oder Drohungen, sondern mit Einsatz und Leidenschaft. Über die Inszenierung Aserbaidschans als moderne und offene Nation lässt sich streiten, über die Meinungseinschränkungen und Inhaftierungen von engagierten Journalisten und Menschenrechtlern haben wir bereits 2012, als der Song Contest dort gastierte, berichtet.
 
Auch hier ist nicht alles Gold was glänzt. Amnesty International ist zu den Europaspielen in Baku nicht erwünscht, zu groß ist die Angst von Aliyew über negative Berichte, Korruption und Einschränkung von Grundrechten. Aserbaidschan steht nach jüngsten Erkenntnissen undemokratischer da, als noch 2012 als Anke Engelke dem Land erklärte, dass Europa sie beobachte. Dennoch kann man eine ganze Bevölkerung nicht in eine Schublade stecken, wer die Macht besitzt, will sie nicht wieder hergeben, das ist bei einem Putin genau so wie bei einem Erdoğan, Aliyew oder Sepp Blatter oft zu lasten des eigenen Organisationen oder der Bevölkerung.
 
Beim Eurovision Song Contest kann man der EBU auch vorwerfen, sie setze sich nicht ausreichend für Demokratie in ihren Mitgliedsländern ein. Warum werden Aserbaidschaner von der Polizei gefragt, warum sie für das verfeindete Armenien anrufen? Außer mahnenden Worten aus den Gremien gab es keinerlei Stellungnahme. Auch der Aufschrei, dass Länder wie Weißrussland überhaupt teilnehmen dürfen, ist für viele nicht plausibel. Aber warum sollten sie es nicht dürfen? Auch Weißrussland soll beim Song Contest die Möglichkeit haben, sich zu präsentieren und in die europäische Familie integriert zu werden.
 
Europa kann stolz sein auf seinen Eurovision Song Contest, denn er steht für das, was letztlich der Wunsch vieler Europäer ist, ob in kriselnden Eurostaaten, GUS-Staaten mit autokratischer Regierung oder in Ländern mit sozialen Problemen. Einmal im Jahr kommen alle zusammen um ein völkerverbindendes Fest und sich selbst zu feiern, sich musikalisch auszutauschen und wie der ORF es treffend formulierte, um Brücken zu bauen. Es braucht keine großen Gesten oder lange Lobeshymnen wie dieses Posting, es braucht einfach nur einen Abend im Mai um Europa zu vereinen.