Sonntag, 18. Juli 2021

Eurovision am Sonntag (64)


Europa
- Tatsächlich habe ich die sogenannte Post Eurovision Depression bisher recht gut überbrückt, gut zwei Monate ist es nun her, dass Måneskin den ersten italienischen Song Contest-Sieg seit 1990 in Rotterdam perfekt gemacht haben. Und auch mehrere Wochen später sind sie noch gefragt. So traten sie gestern Abend bei "Schlag den Star" auf. Bei T-Online heißt es am Tag danach: "(...) Damit begeisterten sie sowohl das Publikum im Studio, das erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie wieder erlaubt war, als auch die Nutzer auf Twitter. Dort wurde die Band Måneskin regelrecht gehypt. Der Rest war im Netz eher Nebensache."

Färbt sich jemand die Haare
steht dies meist für einen
kompletten Neuanfang
Das hat es seit Jahren nicht gegeben und auch die Chartplatzierungen geben den vier jungen Italienern Recht. Ich gebe zu, dass ich mit "Zitti e buoni" noch immer nicht so warm geworden bin, wie mit vielen anderen Liedern des diesjährigen Wettbewerbs, aber ich finde es schön, dass eine Band, die man europaweit erst durch den Eurovision Song Contest kennenlernen durfte, dermaßen abräumt. Unterdessen hört man von unserem Vertreter Jendrik nichts, was eine eigene Meldung wert ist, abgesehen davon, dass er sich nach seiner Rückkehr aus Rotterdam die Haare blau gefärbt hat.

Und so gerät erneut ein Künstler aus dem NDR-Portfolio in den Keller der Vergessenheit. Auch rund um den deutschen Vorentscheid für 2022 ist es wieder einmal still. Während andere westeuropäische Nationen langsam aber sicher ihre Weichen für das kommende Jahr stellen, scheint man in Hamburg aus seinem Scherbenhaufen erneut nicht schlau zu werden. Da wir wohl in den nächsten Wochen und Monaten genauso wenig Informationen erwarten können, wie ein Comeback Marokkos zur Eurovision, blicken wir dieses Mal in die anderen großen Nationen des Wettbewerbs, die schon erste Details für Italien bereit halten.

Da wäre Frankreich, das seinen Vorentscheid "C'est vous qui décidez" wiederbelebt. Die Verantwortlichen von France Télévisions haben bereits das komplette Regelwerk ins Internet gestellt, die Bewerbungsphase läuft bis Ende Oktober. Es ist bemerkenswert, welche Renaissance der Eurovision Song Contest im Land genommen hat, lag man doch mit seinen Beiträgen ebenso wie Deutschland jahrelang daneben. Mit einem vernünftigen Konzept und den richtigen Leuten in den richtigen Positionen hat man es jedoch geschafft, das Interesse für den Wettbewerb zurück zu gewinnen, die Vorentscheidungsquoten bestätigen dies.

1959 fand das erste Festival
von Benidorm statt
Selbst in Spanien bahnt sich ein Wechsel an, der neue RTVE-Direktor hat für morgen in Benidorm zur Pressekonferenz geladen. Die Wahl der Stadt als Vorführungsort für die Pläne für das nächste Jahr dürfte kaum ein Zufall sein. Hätte man die Operación Triunfo oder eines seiner anderen Formate der letzten Jahre wiederbeleben wollen, hätte man dies ebenso in Madrid tun können. Stattdessen trifft man sich an der Costa Blanca, wo man zwischen 1959 und 2006 das prestigeträchtige Festival Internacional de la Canción de Benidorm ausgetragen hat und das auf Grundlage des San Remo-Festivals und u.a. 1968 Julio Iglesias bekannt machte.

Eine Wiederaufnahme dieses Festivals gilt als wahrscheinlich, RTVE-Direktor José Manuel Pérez Tornero kündigte an, die Eurovision fortan wieder ernst nehmen zu wollen, das Festival von Benidorm als Vorentscheid oder Starthilfe für spanische Künstler könnte hierfür eine quotenstarke Grundlage schaffen. Jahr für Jahr erleben wir bereits, wie ganz Italien am Fernseher klebt um über Tage hinweg das Festival von San Remo zu verfolgen. Von den Vorentscheiden in Skandinavien, vom Dansk Melodi Grand Prix über das Melodifestivalen bis zum mehrstufigen Vorentscheid in Norwegen möchte ich gar nicht erst reden.

Hätten wir ohne Eesti Laul 
nie kennen gelernt:
"Wo sind die Katzen?"
Es haben sich diverse Festivals und TV-Programme als Vorentscheide etabliert, die durch ihren jeweiligen Modus im eigenen Land attraktiv erscheinen. Selbst im mittlerweile nicht mehr zum Teilnehmerkreis zählenden Ungarn hat sich das Konzept von "A Dal" etabliert. Die Kroaten haben ihre Dora, die Esten ihren Eesti Laul und die Albaner ihr Këngës, Formate die vielleicht nicht immer den großen Wurf beim Song Contest bringen, dafür aber landesweit anerkannt sind. In Deutschland hingegen sucht man solche Festivals vergeblich. TV-Musikformate beschränken sich fast ausschließlich auf ARD-Schlagershows und Castingformate.

Will sagen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland hat es jahrelang versäumt, Musikveranstaltungen mit übergreifenden Stilen zu vermarkten und eine unterhaltsame Konkurrenz zu etablieren. Und ich fürchte auch, dass es schwer wird, ein Format zu entwickeln, das aus dem Stand heraus Menschen jeden Alters und jeder Community anziehen wird. Nüchtern gesprochen heißt dies, dass ein Vorentscheid in Deutschland ohne sensationelle Promotion nie die breite Masse ansprechen wird, solange man ihn mit der existierenden Stiefmütterlichkeit behandelt. Dabei ist es auch nicht gerade förderlich, wenn man immer wieder liest, dass man den Gürtel finanziell enger schnallen muss.

Die deutschen ESC-Pleiten
kann man auch nur mit
Essen ertragen
Es ist zwar erst Mitte Juli, aber irgendwie sehe ich für das nächste Jahr schon wieder kein Licht am Horizont. Der Eurovision Song Contest wird ohne krachendes Format wieder nur eine Pflichtveranstaltung sein, an deren Ende Barbara Schöneberger wieder gute Miene zum bösen Spiel machen muss. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass hinter dem Schutzwall des NDR am Rothenbaum an großen Plänen für 2022 geschmiedet wird, schon gar nicht an einem TV-Event mit mehr als 2,5 Stunden Sendezeit. Mehrstufigkeit mag nicht immer ein Erfolgsgarant sein, der NDR hat in den letzten Jahren aber auch gezeigt, dass er kein glückliches Händchen für interne Auswahlen und Wildcards hat.

Nun möchte ich aber nicht das ganze Posting über die deutsche Verschwiegenheit und Planlosigkeit schimpfen, sondern mich eigentlich auf 2022 freuen, in Italien läuft schließlich schon die Vorplanung. 17 Städte, quer durch die Stiefelrepublik verteilt, haben sich bei der RAI beworben, bis Ende August wird die Frage geklärt, ob es Turin, Mailand oder doch ein Außenseiter wird. Auch stellt sich die Frage, wie hoch die Zahl der teilnehmenden Nationen ausfällt, insbesondere in Hinblick auf die Gesprächsrunden zwischen Europäischer Rundfunkunion und dem türkischen Fernsehen TRT, bei dem es in den letzten Tagen allerdings personelle Umstrukturierungen gab. 

Wechsel bei TRT: Sobacı
(links) löst Eren (rechts) ab
Der bisherige Programmdirektor İbrahim Eren bestätigte vor einigen Wochen die Aufnahme von Gesprächen mit der EBU, seine Amtszeit ist jedoch nunmehr abgelaufen. Wie die türkische Zeitung Hürriyet berichtet, wurde Eren als Generaldirektor abgewählt und durch den AKP-treuen Mehmet Zahid Sobacı ausgetauscht. Ob die neue Direktion den Dialog mit der EBU fortsetzt und die von vielen Fans ersehnte Rückkehr zur Eurovision tatsächlich in die Tat umsetzt, bleibt abzuwarten. Die Entwicklung der Eurovision dürfte aber in deutlichem Kontrast mit dem Weltbild eines Erdoğan stehen. In diesem Jahr jährt sich das Fernbleiben des türkischen Fernsehens zum zehnten Mal.

2012 in Baku lag es zuletzt an Can Bonomo, die türkischen Farben bei der Eurovision zu vertreten, was Überlieferungen zufolge aber auch nur zustande kam, weil der Wettbewerb im Bruderland Aserbaidschan stattfand. Seit 2013 fehlt "Turkey" auf der Punktetafel. Daneben gibt es noch ein paar weitere Nationen, deren Verbleib bzw. Rückkehr zum Song Contest bisher unsicher ist, dazu gehören Montenegro, Armenien und Ungarn, die 2021 aus verschiedenen Gründen ebenfalls säumig waren. Ein Comeback Weißrusslands können wir bereits ausschließen, die EBU hat eine deutliche Position bezogen und den Sender BTRC aufgrund von staatlicher Zensur und Repression aus der Union geworfen.

Flog mit "Amen" im Semi
raus, Vincent Bueno
Zum Abschluss können wir noch vorsichtig die Teilnahme Österreichs 2022 vermelden. Der ORF hat sich bisher nicht öffentlich positioniert, auf unsere Anfrage hieß es jedoch: "Falls Sie einen Song einreichen möchten, so können Sie uns Ihre Bewerbung, am besten mit einer Hörprobe oder einem Demosong, bis Ende August zukommen lassen, wir leiten diese an die zuständige Redaktion weiter." Offenbar wird in Wien erneut auf internem Wege nach einem Nachfolgebeitrag von Vincent Bueno gefahndet, da man schon eine terminliche Deadline gesetzt hat. Nähere Einzelheiten und diverse Teilnahmebestätigungen zwischen Reykjavik und Tiflis dürften in den kommenden Wochen gehäuft eintrudeln, wir freuen uns drauf, dass die PED nicht mehr allzu lang andauern wird.