Dienstag, 25. Mai 2021

Kommentar: Ich möchte wieder für Deutschland sein...


Deutschland
- Der Eurovision Song Contest ist vorbei und die Interpreten wohl wieder alle in ihren Heimatländern angekommen. Nicht alle sind dabei gesund zurückgekehrt, wie aus Island gemeldet wird, hat nun auch Árný Fjóla Ásmundsdóttir, die Ehefrau von Daði Freyr ein positives COVID-19-Testergebnis erhalten und befindet sich in Island in Quarantäne. Die übrigen beiden Delegationsmitglieder mit positivem Testergebnis befinden sich noch in Rotterdam in Isolation. Árný erklärte, dass es ihr gut gehe und sie keine Symptome habe. Wir wünschen dem stark gebeutelten isländischen Team auf diesem Wege noch einmal alles Gute.

Mit dem Ende des Events in Rotterdam, für das man die Gastgeber aus den Niederlanden wahrhaftig nur loben kann, dass sie es geschafft haben, einen Wettbewerb inmitten einer Zeit von Reisebeschränkungen, Barrieren aller Art und mit striktem Hygiene- und Gesundheitskonzept durchzuführen, ist schon eine große Herausforderung, die man in den Niederlanden sogar mit Publikum vor Ort im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie, die Karl Lauterbach die Fußnägel hochklappen lässt, mit Bravour gemeistert hat. Hier bleibt zu hoffen, dass das Fieldlab-Event zu einem Erfolg wird und man mittelfristig mehr Veranstaltungen in diesem Rahmen durchführen kann.

Unabhängig von den Hürden, die die Organisatoren und Delegationen zu meistern haben und hatten, führt der Weg zurück nach Deutschland. Wie üblich, wenn nicht das gewünschte Ergebnis für Deutschland zu verbuchen ist, kommen die Neunmalklugen aus ihren Löchern und reden alles schlecht. Es ist erstaunlich, dass ich bisher noch in keiner Gazette gelesen habe, dass Europa uns nicht mehr lieb hat und Osteuropa mit seinen Punkteschiebereien Schuld ist. Dazu muss man anmerken, dass von den 26 Finalisten gerade einmal acht Länder in Osteuropa liegen, von denen auch nur die Ukraine nach vorne geprescht ist und das völlig zu Recht. Go_A gingen nach dem Halbfinale viral und haben viele Fans gewonnen, was mich persönlich sehr freut. Die Probleme sind also nicht geopolitischer Natur.

Stattdessen werden Leute wie Dieter Bohlen von der Bild-Zeitung ausgehorcht, ohne das eine Lösung präsentiert wird und spätestens in zwei Tagen ist der Song Contest sowieso wieder aus den deutschen Medien verschwunden. Das Problem dabei ist, dass man dadurch das Interesse am Wettbewerb nicht sonderlich fördert. Tatsächlich schauten die Leute lieber einen Krimi im ZDF als das musikalische Wettsingen in Rotterdam. Wenn wir uns zehn Jahre zurückbeamen, erinnern wir uns, dass das auch anders laufen kann und man mit einem vielversprechenden Beitrag fast die halbe Republik vor den Bildschirm locken kann, Lena hat's vorgemacht, ja selbst Ralph Siegel hat das damals geschafft.

Der Eurovision Song Contest hat in Deutschland an Bedeutung verloren, weil er falsch verwaltet wird. Das beginnt schon damit, dass ein völlig undurchsichtiges Modell zum Einsatz kommt, um Kandidaten für die Show zu gewinnen. Wir wissen, dass es zwei Jurys gab, ein Fan-Panel und eine internationale Expertenjury. Wir haben aber nie erfahren, wer da mitgewirkt hat und was dort unter welchen Kriterien bewertet wurde. Selbst bei ESC-kompakt, die dem NDR wesentlich näher stehen als wir, gibt es Kritik darüber, wie der deutsche Beitrag zustande gekommen ist. Aufgrund dieses doch sehr dubiosen Verfahrens kann ich es Ben Dolic nicht verdenken, dass er zurückgezogen hat, sich lieber beim Free European Song Contest zeigt und nun ebenso gegen den NDR poltert.

Nun hätte der NDR zehn Monate Zeit, bis der nächste Beitrag bei der EBU eingereicht werden muss, sein Format zu überdenken, ob externe Beratungsfirmen mit wissenschaftlicher Herangehensweise das richtige Konzept bilden oder ob man vielleicht doch eher auf einen klassischen Vorentscheid setzen sollte. Stattdessen gibt es keinerlei Informationen. Das Statement von Delegationsleiterin Alexandra Wolfslast in Rotterdam, die hinter einem angetrunkenen Jendrik stand und auch nicht so recht wusste, was sie der Presse nun mitteilen sollte, war das letzte Lebenszeichen, dass wir von der deutschen Delegation gehört haben. Dabei kann man Jendrik nicht einmal etwas vorwerfen, selbst er zeigte nach seinem versemmelten Interview Cojones und äußerte sich noch einmal dazu.

Bei Instagram schrieb er nach seiner Rückkehr nach Hamburg: "Never doing drunk interviews again in my life, I'm cringy af" und freut sich nun auf neue Projekte. Vom NDR dürfte Jendrik auch nicht mehr viel erwarten, wie schon seine Vorgängerinnen Ann-Sophie, Levina oder die S!sters, von denen man so gut wie nichts mehr gehört hat. Und auch wenn ich den deutschen Beitrag in diesem Jahr furchtbar fand, wünsche ich Jendrik alles Glück, um seine Karriere voranzutreiben. Der Eurovision Song Contest hat ihm dabei geholfen, jetzt ist er auf sich allein gestellt und ich wünsche ihm, wie schon den anderen vom NDR verfeuerten Kandidaten, alles Gute auf seiner weiteren Karriereleiter. Das bringt einen nun aber wieder zurück zum eigentlichen Problem, den Support für den Künstler und der Auswahl an sich.

Was seit Jahren in Deutschland auffällt ist, dass es kein Gefühl von Einsicht oder Reue gibt. Man hätte sich hinstellen können und sagen "Ja, wir haben Mist gebaut, aber wir arbeiten dran.", stattdessen fürchte ich, dass wieder irgendwelche dubiosen Gremien versuchen werden, in eine Nachlese zu gehen und dabei genauso schlau aus ihrem Zoom-Meeting hervortreten, wie sie hereingegangen sind. Dann wird möglicherweise noch am Format herumgeschraubt und zwei Kleinigkeiten, die keinen Ausschlag bringen, verändert. In der Summe kommt aber vermutlich nur wieder etwas dabei heraus, was keinem wehtut, aber was eben dem Eurovision Song Contest aus deutscher Sicht nichts nützt. Was es braucht, ist Herzblut und da gibt es so viele Möglichkeiten auf die man zurückgreifen kann.

Es müssen nicht 100 Fans sein, die sich am Ende nur auf einen kleinen gemeinsamen Nenner einigen. Zu viele Köche verderben bekanntermaßen den Brei, dass hat man in San Marino gesehen. Es braucht ein kleines Team, das zu der Feststellung kommt, dass das Wichtigste die Authentizität des Beitrags ist. Die Top 5 in diesem Jahr zeichnen sich alle dadurch aus, dass die Interpreten voller Inbrunst ihre Lieder dargeboten haben und auch dafür stehen, die einen mit italienischem Rock, die nächste mit Chanson oder mit ukrainischer Folklore. Jedes der vorne liegenden Lieder hatte Charakter und das hat ihnen geholfen, Punkte zu sammeln. Das "Keiner mag uns"-Argument zieht nicht, weder in Deutschland noch im UK, wo man tatsächlich seit Samstag hochgradig beleidigt ist und die Schuld bei anderen jenseits des Ärmelkanals sucht.

Zumindest das ist in Deutschland nicht der Fall, man erkennt, dass weder Merkel, der Osten, die Illuminaten, noch sonst jemand die Schuld trägt, sondern diejenigen, die das Auswahlkonzept und die PR zu verantworten haben. Es nützt keinem etwas, wenn der intern nominierte Interpret auf dem roten Sofa sitzt und einmal in der NDR-Talkshow von seinen 18 Waschmaschinen berichtet. Man muss es schaffen, dass die Leute in Deutschland den Act kennen und im Idealfall unterstützen. Da kann ein öffentlicher Vorentscheid helfen. Ich blicke nach Estland, wo man die Kandidaten in zwei Vorrunden kennenlernen kann und dann im Finale eine Entscheidung trifft. Der Vorentscheid hat sich dort zu einer festen Marke entwickelt, die zugleich eine große Bandbreite an Musikstilen bietet.

Der Eesti Laul ist nicht überladen wie z.B. all die Vorrunden in Litauen, aber präsenter als interne Auswahlen, die Zuschauer haben eine Wahl und tragen dann selbst die Verantwortung. Dort geben sich erfahrene Künstler und Newcomer die Hand, weil sie den Song Contest als Chance verstehen und nebenbei im Inland gute Musik promoten möchten. Eine solche Mischung gab es hierzulande auch schon einmal, da hat man nur leider wieder auf Wildcards zurückgegriffen und Clubkonzerte vorgeschaltet. Davon muss der NDR wegkommen und Farbe bekennen: wenn man zehn Acts benennt, ist es auch gut, nicht noch einen elften über Umwege einschleusen. Das ist eine Unart, die dazu führt, dass es andere Künstler abschreckt.

Ich bin kein Hellseher, der die 100%ige Lösung bereithält, aber selbst ich habe genug Sachverstand, um zu erkennen, dass ein offenes Modell Chancen bereithält, sowohl national als auch international. Anke Engelke hat in ihrer Punktevergabe 2012 Aserbaidschan einen Satz mitgegeben, den man heute auch dem NDR vorspielen kann, "It's good to have a choice". Der Song Contest bereitet mir seit fast 25 Jahren Freude, aber es ist toxisch, wenn man direkt nach der Bekanntgabe weiß, dass es wieder ein verschenktes Jahr für Deutschland ist. Nun ist es an der Zeit für den NDR trotz aller Sparmaßnahmen, die Fans positiv zu überraschen. Mit einem frischen und vor allem nachvollziehbaren Modus, der eine längere Halbwertszeit hat, als all die Auswahlmodi der letzten Jahre. Dann muss mir das Lied nicht einmal gefallen, aber man erkennt dann zumindest, dass es authentisch ist und das zählt inzwischen mehr als Konzepte.

In der ARD hat man sogar die Möglichkeiten, etwas zu schaffen, was in Deutschland Millionen Menschen begeistert ohne dabei antiquiert zu wirken. Auch wenn vielen das musikalische Spektrum nicht gefällt, aber es gibt im Ersten regelmäßig Schlagershows. Eine Show, in der nach eigenen Angaben alles funkelt und glitzert. Und dann steht dort z.B. eine Maite Kelly auf der Bühne, die einen Song und eine Choreographie im Gepäck hat, dass es nur so kracht und die durchaus auch auf einer Eurovisionsbühne passieren könnte. Das ist weniger Werbung dafür, Maite anzurufen, als dafür, dass man sich eventuell mal auf den ach so verteufelten Schlager besinnt, der es immerhin regelmäßig schafft, Hallen zu füllen und eine große Basis in Deutschland hat, ebenso wie z.B. Rockfestivals. Mehr Basis jedenfalls als ein Mittelfinger mit Botschaft...

Man muss den Musikstil nicht mögen, aber man sieht, dass auch in der ARD eine Show möglich ist: Maite Kelly - Heute Nacht für immer (Schlagerchampions 2019)