Freitag, 11. Mai 2018

Tag 13: Zusammenfassung vom 2. Semifinale in Lissabon



Portugal - Der Eurovision Song Contest hat seine eigenen Gesetze, immer wieder sehen wir, dass es anders kommt als man es tatsächlich annimmt. Obwohl ich wieder acht aus zehn Finalisten richtig getippt habe, liest sich die Teilnehmerliste für das Finale unglaublich. Meiner Meinung nach sind selten so viele gute Beiträge in der Endrunde dabei gewesen, sodass quasi stündlich Verschiebungen in den Wettquoten stattfinden. Das gestrige Halbfinale brachte aber auch einige Ergebnisse mit sich, mit denen man zwar gerechnet hat, die man aber noch gar nicht richtig glauben kann.

Eines lässt sich gewiss sagen, der Eurovision Song Contest 2018 hat einige Opfer gefordert, am Dienstag u.a. die Schweiz und Aserbaidschan, gestern traf es nun zum ersten Mal in ihrer Geschichte Rumänien und Russland, die damit aus dem elitären Zirkel der immer qualifizierten Nationen ausscheiden. Ohne Berücksichtigung des erst seit einigen Jahren teilnehmenden Australien verbleibt nur noch die Ukraine in dieser Gruppe. Gerade hier in Portugal fand ein derartiger Osteuropa-Exodus statt, dass ich niemanden mehr hören möchte, der sich darüber beschwert, dass sich jene Nationen im großen Stil die Punkte zuschachern.

Die Teilnehmerkarte bei Wikipedia beispielsweise zeigt einen riesigen roten Teppich, wie es ihn zuletzt auf politischen Karten in Zeiten des Kalten Krieges gegeben hat. Die Russische Föderation ist draußen, ebenso der kleine Bruder Weißrussland und der gesamte Kaukasus. Man las Meldungen wie: "Dass Russland sich nicht für das Finale qualifiziert hat bedeutet, dass das Wertungssystem der Eurovision schwerer zu hacken ist als die US-Wahlen oder das Brexit-Referendum". Zur russischen Teilnehmerin Julia Samoylova kommen wir aber später, wir räumen das gestrige Teilnehmerfeld von vorne auf und fangen mit Norwegen an.

Alexander Rybak sang den 1.500. Beitrag beim Eurovision Song Contest und wurde seinem Favoritenstatus gerecht. Wenngleich ich seinen stimmlichen Auftritt relativ mau fand, lieferte er eine ordentliche Show, die vor allem durch die CGI-Grafiken stilisierter Instrumente zu beeindrucken wusste. "That's how you write a song" kam aber erwartungsgemäß als guter Auftakt an, der skandinavische Block in diesem Halbfinale und sein Status, den er seit 2009 als Eurovisionssieger hat, dürften ihm dabei zusätzlich geholfen haben. Alexander Rybak ereilt damit nicht das gleiche Schicksal wie Dana International, wird trotz gut stehender Quoten aber vermutlich nicht den ewigen Rekord von Johnny Logan einstellen und am Samstag zum zweiten Mal gewinnen.

Tatsächlich scheint der zweite Startplatz verflucht zu sein. Am Dienstag traf es auf dieser Position schon Ari Ólafsson aus Island, gestern war es die rumänische Band The Humans. Gesanglich kann sich Leadsängerin Cristina Caramarcu nichts vorwerfen, das Lied war aber eben nichts Besonderes, zu lange dauerte das ruhige Intro, bis dann der Rockteil begann. Rumänien dürfte es verschmerzen können, mit ihrem Maskenball nicht dabei zu sein, hat man doch in den letzten Jahren nie ein Finale ausgelassen. Irgendwann musste dieser Tag kommen. Genauso traf es später die georgische Band Iriao, deren Lied für den Eurovision Song Contest einfach zu sperrig war, als dass es eine Chance hatte. Die Georgier lieferten aber stimmlich genauso prima ab wie die Rumänen.

Für viele überraschend kam die Bekanntgabe, dass Sanja Ilić & Balkanika aus Serbien im Finale sind. Der Beitrag dürfte allerdings durch den unverkennbaren Balkansound profitiert haben, der durch einen mehr oder weniger sektenhaften Tanz unterlegt wurde. Ich hatte Serbien auf meiner Liste und finde, dass dieser Stil in ein Eurovisionsfinale gehört, dort dürfte "Nova deca" aber keine Rolle spielen, wenngleich der alte Mann mit der Flöte originell ausschaut. Das serbische Fernsehen, so wurde heute Nacht bei der Pressekonferenz schon bestätigt, wird am nationalen Vorentscheid, der Beovizija, festgehalten.

Der zweite vergleiche Sound aus Montenegro flog hingegen raus, was ich nicht zuletzt auf den missmutigen Gesichtsausdruck von Vanja Radovanović schiebe. Der gesamte Auftritt wirkte unfertig und unmotiviert, als hätte Vanja sich fünf Minuten vor dem Auftritt eine Valium geext. Das Aus im Halbfinale dürfte niemanden erstaunt haben. Jugoslawien wurde an diesem Abend durch Slowenien komplettiert. Lea Sirks bewusst eingebaute Tonpanne wirkte am Fernseher gar nicht so unspontan wie befürchtet. Das Publikum machte super mit. Ich war überrascht, wie überzeugend "Hvala, ne!" dann doch vorgeführt wurde. Trotz des Überraschungserfolgs von Slowenien im Halbfinale bleibt das Lied im Finale wohl ohne Chance. 

"Sometimes size doesn't matter" lautete die Ansage des Roboters, den Jessika Muscat und Jenifer Brening mit auf die Bühne brachten. Für ihre Möglichkeiten sauber abgeliefert, blieb "Who we are" ein zusammengekleistertes Lied, das gemessen an den übrigen Beiträgen die schwächste Nummer des Abends darstellte. Punktelos wird San Marino allein schon aufgrund von Jessikas Malta-Bonus nicht geblieben sein, ich nehme allerdings an, dass der Zwergstaat auf dem letzten Platz gelandet ist. San Marino hat mit seinem Vorentscheid zumindest den richtigen Weg und die Weichen für die Zukunft gestellt, sofern man beim nationalen Rundfunk überhaupt noch eine Zukunft bei der Eurovision sieht.

Nach San Marino stiegen die dänischen Wikinger auf die Bühne. Zu "Higher ground" gibt es an sich gar nicht viel zu sagen, optimal abgeliefert, herrlich düster inszeniert, am Ende auch noch mit Kunstschnee, das war so eurovisionär, dass es einfach ins Finale kommen musste. Der weiter hinten antretende Benjamin Ingrosso aus Schweden überzeugte mit seinen Dance-Moves genauso vor seinen Neonröhren wie Rasmussen mit seinen wilden Männern im martialischen Gleichschritt vor zerrissenen Segeln. Die skandinavischen Beiträge bieten in diesem Jahr in jedem Fall etwas für's Auge.

Schlimm mit anzusehen war der russische Auftritt von Julia Samoylova. Ohne der, durch ihre Krankheit gezeichneten, Sängerin etwas Böses zu wollen, aber es ist den anderen Nationen nur fair gegenüber, das diese Leistung nicht belohnt wurde. Fast möchte man den russischen Organisatoren unterstellen, dass man "I won't break" absichtlich so desaströs in Szene gesetzt hat. Julia auf dem beleuchteten Vulkan, ein anklagender Backgroundchor und diese beiden überflüssigen Tänzer. Russland gibt damit sein Monopol auf geblockte Finalplätze ab, Europa hat an diesem Abend entschieden, dass es genug ist und der Beitrag qualitativ einfach nicht an frühere Leistungen heranreicht.

Wie es für Julia Samoylova nun weitergeht ist noch unklar. Fest steht aber, dass sie noch im Greenroom bittere Tränen vergossen hat, nachdem sich herausgestellt hat, dass Russland (abgesehen vom freiwilligen Fernbleiben in der Ukraine) erstmals seit 1999 nicht im Finale dabei sein wird und selbst damals setzte Russland freiwillig aus, da man den Wettbewerb im Jahr zuvor nicht übertragen hatte. Unabhängig aller politischer Ränkespiele, die schon seit Kiew 2017 mit ihrem Namen verbunden waren, gesanglich war das nichts! Und so dürfen wir gespannt sein, welchen Kurs Russland in Zukunft bei der Eurovision nehmen wird und wann die ersten Duma-Mitglieder den Wettbewerb zerreißen.

Für Kurzweil sorgte nach der ersten Greenroom-Schaltung, bei der sich Rasmussen den Bart streicheln lassen musste und der sanmarinesische Roboter zu Wort kam, das Boulevardtheater aus Moldawien. Phillip Kirkorow hat den DoReDos eine Show auf den Leib geschneidert, die auf charmante Art und Weise die Problematik einer zweigleisigen Beziehung zeigt. Ich fühlte mich sehr unterhalten und finde, dass die Moldawier als Spaßmacher vollkommen zurecht ins Finale eingezogen sind. Mehr als eine unterhaltsame Spaßnummer wird es aber nicht sein, obwohl die Quoten gut stehen, glaube ich, dass sie nicht an das Ergebnis des SunStroke Projects aus dem Vorjahr anknüpfen können.

Waylon aus den Niederlanden kann man zwar vorwerfen, dass er stets sehr unsympathisch rüberkommt und die krampfartigen Tänze seiner Bandkollegen blödsinnig aussehen, nicht aber, dass er keine Rampensau ist. Seinen Country-Rock "Outlaw in 'em" im Leoparden-Look brachte er toll rüber und steht absolut zurecht im Finale. Dabei musste Waylon wie schon 2014 bis zum Schluss zittern ob es für das Weiterkommen reicht. Etwas früher wurde Jessica Mauboy aus Australien gezogen. Hier machte sich ein bisschen Enttäuschung bei mir breit, hätte ich mir doch etwas mehr Pfeffer in der Performance erhofft, obwohl sie versuchte ihren Auftritt als Konzert zu gestalten und das Mikrofon in Richtung Publikum richtete und zum Mitmachen aufforderte. Ich wünsche mir, dass sie im Finale zeigt, was sie für eine tolle Stimme hat und weniger hampelt.

Es folgte ein Dreierblock bestehend aus Nicht-Qualifikanten, die schnell abgearbeitet sind. Den Anfang machte das bereits besprochene Georgien. Polen dahinter ist mit Gromee und Lukas Meijer ebenso rausgeflogen und das nicht unverdient. Lukas war zwar besser als man es bei den Proben gesehen hat, trotz allem wirkte "Light me up" erschreckend blutleer. Zum Fremdschämen war der drei Minuten grinsende DJ Gromee mit seinen flippigen Armbewegungen, sodass ich mich ohne Skrupel vom polnischen Beitrag trennen kann, obwohl es eines meiner Favoriten war. 

Den maltesischen Beitrag fand ich einfach nur fürchterlich, eine schlimme überladene Show mit Laser-Effekten, LED-Wänden und einer verstörenden Tänzerin. Wie jemand anmerkte: Das ist einer der maltesischen Beiträge, wie es sie zu Hauf in den letzten Jahren gab und an die man sich nach einer Stunde schon nicht mehr erinnert. In Erinnerung bleiben werden bei mir aber die Syntax Error-Meldung am Anfang auf der Videowand und das pulsierende Herz, das aussah wie eine stilisierte Nachgeburt. Schade ist es da schon eher um Laura Rizzotto aus Lettland, die mit ihrer aufreizenden Darbietung vermutlich im Kampf um Platz zehn beteiligt war. Lettland hat es als einziger Baltikumstaat leider nicht geschafft, zum zweiten Mal in Folge ist im Semifinale Schluss.

Geschafft hat es dafür die feurig-geniale Metalcore-Darbietung von AWS aus Ungarn. Dabei verausgabte sich Sänger Örs Siklósi so sehr, dass er am Ende mit völlig zerzausten Haaren und hochrotem Kopf auf der Bühne stand. Europas Rock- und Metalfans hat es gefallen und sind für mich ist eine tolle und vor allem laute Abwechslung im Finale am Samstag. Als letzter Starter stieg Mélovin für die Ukraine aus seinem Klaviersarg und setzte nach einem kurzen Sit In bei den Backings die Showtreppe in Brand. Diese Show gefiel Europa, sodass die Ukraine ihre 100% wahrt und nun am Samstag das Finale eröffnen muss.

Als Interval wurden in diesem Jahr die vier Moderatorinnen eingebunden, die tänzerisch durch die Geschichte des Eurovision Song Contests führten. Weitgehend unbemerkt blieb dabei eine witzige Situation zu Beginn der Darbietung, als alle vier aufgereiht dort standen und Sílvia Cautela beim Einatmen der Verschluss ihres Dekolletés aufplatzte. Beendet wurde die Nummer u.a. mit Riverdance. Die Big Five-Nationen Frankreich, Deutschland und Italien wurden ebenfalls angeschnitten, die französische Madame sang "Amar pelos dois" auf Französisch an, Michael Schulte lieferte "Fly on the wings of love" und die Italiener zollten Domenico Modugno Tribut.

Ob es ein ungeschriebenes Gesetz ist, dass der letzte Starter im zweiten Halbfinale automatisch das Finale eröffnen muss ist nicht überliefert. Es ist aber schon erstaunlich, dass sowohl Laura Tesoro als auch Imri und nun Mélovin das zweite Semi beschließen und von den Produzenten der Eurovision im Finale auf die #1 gesetzt werden. Im Großen und Ganzen bin ich mit der Selektion für das Finale in beiden Halbfinals sehr zufrieden, wobei ich noch anmerken möchte, dass sich die Schweiz im zweiten Halbfinale sehr wahrscheinlich wirklich qualifiziert hätte, so gut empfand ich die Leistung.

Die Zibbz schauten das gestrige Semifinale gemeinsam mit ihren Freunden aus Tschechien und Island, wie man bei lustigen Videos in den jeweiligen Instagram-Stories sehen kann. Wir kommen nun auf die Zielgerade der Eurovision 2018, mit großen Schritten nähert sich das Finale. Heute Nachmittag findet die erste Generalprobe statt, heute Abend um 21 Uhr (MESZ, 20 Uhr Ortszeit) gilt es dann für die 26 qualifizierten Nationen die Juroren von sich und ihren Leistungen zu überzeugen. Ein abschließendes Statement möchte ich noch über die aktuellen Wettquoten, Stand 10:33 Uhr, verlieren.

Mittlerweile ist die Erstellung eines Finalrankings auf Grundlage der Wettquoten nicht mehr möglich. Zwar führt Zypern noch vor Israel, was auch mein erwartetes Duell für morgen Abend ist, unter Berücksichtigung der ausgelosten Startreihenfolge und einer ganzen Menge Willkür, liegt Deutschland inzwischen hinter Litauen(!) auf der Sechs in den Wettquoten. Dahinter reihen sich Norwegen, Italien und Irland(!) auf. Lange Zeit vorn liegende Beiträge wie Estland, Bulgarien, Australien und Tschechien werden nur noch Mittelfeldplatzierungen eingeräumt. Ob man das noch ernst nehmen kann, sei dahingestellt.

Alexander Rybak eröffnet das Halbfinale | Als erste ins Finale eingezogen: Balkanika
Todesslot #2: Rumänien | Auch der knuffige Roboter konnte San Marino nicht helfen
Großartiges Schauspiel: "My lucky day" aus Moldawien | Ebenfalls im Finale: Waylon
Die gleiche Geste, das gleiche Ergebnis: Polen und Malta sind ausgeschieden
Beendet Russlands Serie: Julia Samoylova | Auch Lettland ist ausgeschieden
Mit Glitzer kam Australien weiter, Ungarn setzte auf Rauch und Feuer
Gute aber klinische Leistung: Benjamin Ingrosso | Überraschung im Finale: Slowenien
Hatte scheinbar eh keine Lust: Vanja aus Montenegro | Die Auferstehung von Mélovin
Team Netherlands im Greenroom | Laura Rizzotto und ihr Team
Noch gut gelaunt: Julia Samoylova | Michael Schulte sang "Fly on the wings of love"
Ermal und Fabrizio stimmten "Volare" an | Ein Teil der zehn glücklichen Finalisten
Der Rest der Mischpoke: Sie sehen wir morgen Abend im Finale wieder
Hatten auch als Zuschauer Spaß: Mikolas Josef, die Zibbz und Ari Ólafsson