Samstag, 4. Juni 2016

Red Cocktail: Molitva



Europa - Mit 74 (bis gestern Abend) abgegebenen Stimmen hätte ich nun wahrlich nicht gerechnet, der Sieger der ersten Abstimmung ist aber eindeutig, mit 34% heißt unser erster Cocktail in diesem Sommer "Molitva". Pate des Postings ist der Siegertitel von Marija Šerifović in Helsinki 2007. Wir gehen allerdings tiefer in die Materie, als dass wir nur über die junge Serbin berichten sondern tauchen ein in eine Welt voller Schmerz, gehen der Frage nach, warum viele Interpreten vom Balkan mit Hingabe den Bühnentod sterben und analysieren, welche Kandidaten in der Song Contest-Geschichte das Prädikat "Kreideschrei" erfüllen.


Ovo je Balkan: Čevapčiči
Die Ursprünge der Balkanfolklore sind nicht genau bestimmbar, im ehemaligen Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten gibt es jedoch einen klaren Trend zur Landessprache. "Darin steckt viel These und Antithese, sie ist eine dialektische Angelegenheit, eine Suppe mit vielen Gewürzen und Aromen.", wird ein Musikexperte aus der Region zitiert. Man kann die Länder zwischen Slowenien und Albanien auch nicht in ein Raster stecken, dafür unterscheiden sie sich Ethno, Balladen und Turbofolk zu sehr. 


Kurz vor dem Zerfall Jugos-
lawiens gewannen Riva
Viele Lieder, die auch zum Eurovision Song Contest kamen, haben aber einen leicht depressiven Klang, Melancholie und Schmerz werden vermittelt, nicht erst seit "Molitva". Der Einstieg von Bosnien-Herzegowina beim Eurovision Song Contest 1993 in Millstreet Town brachte auch die erste schmerzerfüllte Ballade mit sich, in den Jahren zuvor probierte Jugoslawien eher mittelmäßigen Pop aus, etwa mit der Gruppe Riva, die 1989 sogar gewinnen konnte oder 1991 das trashige "Brazil" von Bebi Doll


Bosniens Premiere ging
unter die Haut: Fazla
Im Lied von 1993 sang der Leadsänger der Gruppe Fazla, Muhamed Fazlagić: "Sva bol svijeta je noćas u Bosni" ("Der Schmerz der ganzen Welt ist heute Abend in Bosnien") und klagte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Westeuropäische Zuschauer, die bislang keinen Blick hinter den Eisernen Vorhang werfen konnten, waren berührt, für eine vordere Platzierung reichte es nicht, aber der Beitrag blieb in Erinnerung und machte den Weg frei für spätere Künstler der Region, die Klagelieder intonierten. Bosnien blieb den melancholischen Tönen beispielsweise noch bis 1997 treu.

Einige Balkanballaden in der Eurovisiongeschichte:
- 1993: Fazla - Sva bol svijeta (Platz 16) 
- 1998: Danijela Martinović - Neka mi ne svane (Platz 4) 
- 2004: Željko Joksimović - Lane moje (Platz 2) 
- 2005: Boris Novković & Lado - Vukovi umiru sami (Platz 11) 
- 2006: Hari Mata Hari - Lejla (Platz 3) 
- 2007: Marija Šerifović - Molitva (Platz 1) 
- 2008: Jelena Tomašević - Oro (Platz 6) 
- 2009: Grupa Regina - Bistra voda (Platz 9) 
- 2014: Sergej Ćetković - Moj svijet (Platz 19) 
- 2015: Knez - Adio (Platz 13) 
- 2016: Dalal & Deen feat. Ana Rucner & Jala - Ljubav je (Platz 11, SF)


Mazedoniens Popstar, leider
zu früh von uns gegangen...
Man muss dazu sagen, dass die ehemaligen Jugoslawien-Staaten musikalisch sehr eng miteinander verknüpft sind. Ein Dino Merlin aus Bosnien-Herzegowina beispielsweise füllt auch in Serbien, Kroatien und Mazedonien ganze Hallen. Eine Nina Badrić aus Kroatien verkauft auch in Montenegro und Slowenien Platten. Als Toše Proeski tragischerweise bei einem Autounfall ums Leben kam, war nahezu die gesamte Musikszene des Balkans auf seiner Beerdigung vertreten. Er hatte sein Land im 7/8-Takt mit "Life" vertreten. Es dürfte also nicht verwundern, wenn vertraut klingendes auch im Nachbarland Beachtung findet und die Zuschauer im Televoting dafür stimmen um den Vorwurf der Balkan-Mafia beim Song Contest auszuräumen.

Schon beim jugoslawischen Vorentscheid stellten die einzelnen Ableger des Senders JRT eigene Kandidaten, da durften damalige Größen der lokalen Musikszene wie Lepa Brena ("Miki mico"), Neda Ukraden, Tereza Kesovija oder Oliver Dragojević gegeneinander antreten, zur Eurovision wurde jedoch nur einer geschickt. Mit dem Ende von Jugoslawien endete auch die Sendezeit von JRT, der Sender zerbrach in die regionalen Sender, etwa HRT in Kroatien oder BHRT in Bosnien. Nur die Teilrepublik Mazedonien schaffte es zu "Jugovizija" nicht, einen Interpreten zum Wettbewerb zu schicken, dafür durfte man 1998 immerhin mit Vlado Janevski und einem sehr düsteren Titel zur Eurovision nach Birmingham fahren.

Željko und seine heutige Frau
Jovana Jankovic
In vielen Liedern, die beim Eurovision Song Contest aufgeführt wurden, ging es um Liebe. Željko Joksimović sang darüber, ähnlich wie Jelena Tomašević, teilweise mit aktuellem, teilweise mit geographischem Bezug. Željko versuchte sich mehrmals als Interpret oder Komponist, 2004 sang er noch selbst mit seinem Ad Hoc Orkestar, 2012 garnierte er seine Karriere mit dem dritten Platz. Wenn man so will, stellen diese Lieder den authentischsten Part im Wettbewerb dar. Diese Lieder werden auch außerhalb der Eurovisionsblase gehört, sind auch bei der Diaspora der Balkanländer im Ausland beliebt. So kommt es dann auch vor, dass z.B. Kaliopi auch nördlich von Donau und Save auftritt. Immer gern gesehen ist dabei die Untermalung mit Folkloreinstrumenten.


Schriller Stil und schrille
Stimme: Rona Nishliu
Typische Töne, bei denen manch einer Gänsehaut kriegen mag, lieferte u.a. Hari Mata Hari, eine Formation, die schon zu Titos Zeiten auf dem Balkan erfolgreich war. Das Intro spiegelt den Geist des Balkans wieder, ebenso das "Nunanaj" von Jelena, die mit "Oro" musikalisch auf den Kosovo anspielte. Der slawische Bruder aus Bulgarien hingegen hat seine eigene Handschrift, auch Albanien, das mit seiner isolierten Sprache beeindruckt, hebt sich bei Balladen etwas ab. Erwähnt sei hier das todtraurige "Aria" von Denisa Macaj aus dem Vorentscheid 2009 oder die fantastische Rona Nishliu, die die Crystal Hall in Baku in Grund und Boden schrie und das bis heute beste Ergebnis des Landes der Skipetaren einfuhr. Albanien liefert beim Vorentscheid vor Ethnosound strotzende Lieder, die dann aber zumeist noch ins Englische übersetzt und kaputt komponiert werden...

Die Grenzen des Balkan sind dabei gar nicht klar definiert. Der Name leitet sich von einem Gebirgszug in Bulgarien ab, die Balkanhalbinsel selbst ist aber nicht klar eingegrenzt, einigen Quellen zufolge werden Donau und Save als Grenze genommen, andere Quellen ziehen eine imaginäre Linie zwischen Triest und Odessa. Der Begriff ist hierzulande häufig negativ behaftet, mit Klischees wie Korruption, Krieg, Kleinstaaterei und Rückständigkeit. Abwertend wurde er insbesondere in den 90er Jahren als "Pulverfass Europas" bezeichnet. Die Halbinsel vereint trotz des Krieges, der Hunderttausende zu Flüchtlingen machte, zahlreiche Ethnien, darunter auch viele Roma (abwertend auch Zigeuner).

Esma und Vlatko sangen
2013 für die EJR Mazedonien
Eine bekannte Musikerin dieser Volksgruppe ist Esma Redžepova, die 2013 in Malmö mit Vlatko Lozanoski dabei war. Auch die letzte Sängerin für Jugoslawien, Extra Nena bediente sich 1992 in Malmö an Klängen der Zigeunermusik. All diese Einflüsse, von der früheren Besatzung durch die Osmanen und Österreich-Ungarn spiegeln sich auch heute in der Musikkultur der Region wieder. In jüngster Zeit probieren sich viele Interpreten aber auch an der englischen Sprache. Sangen Mija Martina und Claudia Beni teilweise noch in Landessprache schickte z.B. Serbien in diesem Jahr mit "Goodbye (shelter)" einen komplett auf Englisch gesungenen Titel.

Empfehlenswerte Musik vom Balkan:
- Dino Merlin & Ivana Banfić - Godinama 
- Nina Badrić - Carobno jutro 
- Saša Lendero - Mandoline 
- Petar Graso & Nina Badrić - Utorak 
- Vesna Pisarovic - Da znaš 
- Hari Mata Hari - Strah me da te volim 
- Jelena Rozga - Nemam 
- Toše Proeski - Pratim te


Goran Bregovic durfte 2008
mit seiner Brass-Band auftreten
Neben Flöten und Dudelsäcken ist u.a. auch die serbische Brass-Musik ein Exportschlager. Zu sehen gab es eine derartige Kostprobe 2008 im Rahmenprogramm des Song Contests in Belgrad, als Goran Bregović mit seinem Orchester spielte. Siegreich war jedoch nur Marija Šerifović, die 2007 ihr "Gebet" mit den Beauty Queens im Nacken sang und aus dem Stand den Sieg für das gerade erst unabhängig gewordene Serbien einfuhr. Unterlegt wurden viele Musikvideos der ex-jugoslawischen Beiträge mit Bildern der Landschaft auf dem Balkan, da kam die historische Brücke von Mostar ebenso vor wie die namensgebenden Berge in Montenegro oder die Karst- und Waldlandschaften in Kroatien. Dort wo früher Pierre Brice als Winnetou durch die Gegend ritt, werden heute Preview-Clips für die Eurovision aufgenommen.

Liebling der Fans: Kaliopi
Die Balkanmelodien verleiten aber auch, insbesondere beim Eurovision Song Contest, zu besonders hohen Noten. Die unangefochtene Königin ist dabei Kaliopi, die 2012 mit "Crno i belo" in Baku die spitzeste Note überhaupt abgab. 2016 versuchte sie sich in Stockholm erneut, mit drei Stimmbändern ist sie da auch klar im Vorteil. Sie freute sich sehr auf ihren Eurovisionsauftritt, im Halbfinale war mit "Dona" allerdings als Elfte Schluss. Aber auch ihre kroatische Kollegin Maja Blagdan 1996 in Oslo stand ihr mit "Sveta ljubav" in nichts nach. Das Phänomen, dass Mazedonien regelmäßig als Elftes im Semifinale rausfliegt, muss allerdings noch ergründet werden.

Es gibt viele, die keinen Zugang zu den Klageliedern aus Bosnien oder vom Amselfeld haben, andere lieben gerade dieses Genre beim Eurovision Song Contest. Mir persönlich gibt ein "Neka mi ne svane" auch mehr als Plastikpop á la "Celebrate" von Daria Kinzer aus Kroatien, solange es gut gemacht ist. Den bisher letzten typischen Balkanfetzen lieferte Bosnien bei seinem Comeback in Stockholm. Deen, der zuvor auch nur mit Uptempo-Musik auffiel, krallte sich Dalal und sang den Liebessong "Ljubav je", dessen Performance allerdings eher auf die Zustände in Idomeni anspielte. Abschließend bleibt zu sagen, dass die Staaten Jugoslawiens in ihren Beiträgen häufig ihre eigene Geschichte aufarbeiten und dabei große Stars entsenden. Wenn diese Musik irgendwo eine Daseinsberechtigung hat, dann doch wohl beim Eurovision Song Contest.




Poll: Und damit steht das Votingfenster für die nächste Woche offen. Zur Auswahl stehen in dieser Woche die Themen "Oh Tannenbaum", "Gameboy", "Quattro Stagioni", "Vintage Week", "Back in USSR", "Bonsoir l'Europe" und "Einhundert". Viel Spaß beim Abstimmen!

Zur Abstimmung für das erste Cocktail-Posting geht es hier entlang.