Donnerstag, 23. Juni 2016

Orange Cocktail: Back in USSR



Europa - In Runde vier soll es nach der Mehrheit der Abstimmenden zurück in die ehemalige Sowjetunion gehen. "Back in USSR" ist der Titel der heutigen Cocktail-Kategorie und den servieren wir natürlich gern, in Hinblick auf die musikalische Entwicklung zwischen Stalin und Gorbatschow und erinnern mit dem Titel sogleich an die Sängerin Gunesh Abasova, die sich mehrmals vergeblich für den Eurovision Song Contest bewarb, jedoch nie ihre Chance erhalten hat, bisher jedenfalls noch nicht. Auf die übrigen Kategorien vom Vintage bis hin zur Fashion Queen hatten unsere User diesmal weniger Lust.



Hübsche Briefmarken konnten
sie: 60 Jahre Tadschikische SSR
in der UdSSR
Die Internationale dient weltweit als Sinnbild für den Kommunismus, jene Staatsform, die in der Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg gelebt wurde. Die Musik in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock, einschließlich der DDR, war stets der Zensur unterworfen, regelmäßig landeten zu progressive Titel und Bands auf dem Index. Die westlichen Musikgenres sollten sich nicht durchsetzen und so kam es, dass die Staatsführung der SED mit dem Modetanz Lipsy versuchte, einen eigenen Trend zu setzen, der der Parteilinie entsprach. Im Verborgenen hörte man aber trotzdem die Beatles, die Rolling Stones und alles was im Westen angesagt war.

Einen relativ eindrucksvollen Geschmack von der musikalischen "Freiheit" jenseits der Berliner Mauer gibt die Nebengeschichte von Wuschel (Roman Stadlober) im Film "Sonnenallee" wieder. Und so hat man auch in der Sowjetunion den Eurovision Song Contest verfolgt, vielleicht nicht immer öffentlich darüber gesprochen, die Spione waren schließlich überall, dennoch gab es auch Jahrgänge, in denen die Show ganz offiziell im sowjetischen Staatsfernsehen zu sehen war. So wurde beispielsweise der Wettbewerb 1969, bei dem es vier Sieger gab, fast im gesamten Ostblock übertragen, zudem war der Wettbewerb in jener Zeit selbst in Südamerika populär.


Nicht-Teilnehmerländer, die den ESC 1969 ausgestrahlt haben:

- Brasilien 
- Chile 
- DDR 
- Marokko 
- Österreich 
- Polen 
- Rumänien 
- Sowjetunion 
- Tschechoslowakei 
- Tunesien 

Teilnehmen durften die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs allerdings nicht. Dafür gab es die Intervision, das Pendant der EBU auf Seiten des Warschauer Pakts. In Sopot wurde zwischen 1977 und 1980 der Intervision Song Contest gepflegt, er erreichte allerdings nicht die Popularität, die der Eurovision Song Contest hatte. Und auch wenn das Thema hier schon mehrmals ausgelutscht wurde, so ist es doch immer wieder erheiternd, dass man damals mittels Lichtschalter über einen Beitrag abstimmen konnte. Fand man einen Beitrag gut, hat das lokale Elektrizitätswerk gemessen, wo und wie oft das Licht an- und ausgeknipst wurde. Dieser Mechanismus war zu jener Zeit tatsächlich demokratischer als das Entsenden von Juroren zum Song Contest.

Ilja Lagutenko von Mumiy
Troll band sich 2001 'ne
Karawatte ans Bein
Eine Stilrichtung war in der Sowjetunion aber wahrlich verpönt, nämlich Rockmusik. Es dauerte bis zum Machtantritt von Michail Gorbatschow, bis auch dieses Genre seine Daseinsberechtigung ausleben durfte. 1987 erschien beispielsweise der Film "Rock", in dem der Sänger der Rockband Aquarium von Repressalien seitens der Staatsführung erzählte und wie ein Volksfeind behandelt worden sei. Ähnlich dürfte es der Band Mumiy Troll aus Wladiwostok ergangen sein, die sich 1983 um Frontmann Ilja Lagutenko gründete und in der geschlossenen Stadt versuchte, sich im Untergrund zu etablieren. 2001 durfte die Band für Russland zum Song Contest fahren. Der Mann mit der Krawatte am Bein belegte mit dem gewöhnungsbedürftigen "Lady Alpine Blue" immerhin den zwölften Platz.

Knallte in der UN-Versammlung
auch mal mit dem Schuh auf's Pult:
Nikita Chruschtschow
"In der Musik wie in den anderen Kunstgattungen gibt es viele verschiedene Genres, Stile und Formen. Niemand belegt auch nur einen einzigen dieser Stile und Genres mit einem Verbot.", sagte KPdSU-Anführer Nikita Chruschtschow 1963, die Realität sah aber oft anders aus. Und so dauerte es bis 1994, als die ehemaligen Intervisionsländer in die EBU integriert wurden und sich dem Eurovision Song Contest stellten. 1993 bewarb sich Estland, das sich seine Unabhängigkeit gemeinsam mit den baltischen Nachbarn wenige Jahre zuvor friedlich ersang, vergeblich mit Janika Sillamaa in der osteuropäischen Qualifikation. Neben Estland gaben auch Litauen und Russland selbst ihr Debüt, später folgten Lettland und die Ukraine, Weißrussland, 2005 Moldawien und schließlich Armenien, Georgien und zuletzt Aserbaidschan als Nachfolger der Sowjetunion.

Mehr Männer als Liz Taylor:
Alla Pugatschowa (1997)
Russland setzte in den Anfängen auch auf die Topstars seiner damaligen Musikszene. Alla Pugatschowa beispielsweise. Sie wurde 1949 in Moskau geboren und zählte zu Sowjetzeiten zu den populärsten Estrada-Sängerinnen des Landes. Estrada war die typische Bezeichnung für Popmusik im Ostblock. Dabei verscherzte sie es sich mit mehreren Aussagen auf Konzerten mit der Politspitze. 1978 gewann sie die Intervision in Sopot, arbeitete mit dem lettischen Komponisten Raimonds Pauls zusammen und wurde später auch für das ZK eine bedeutende Stimme. Einen Tag vor der offiziellen Auflösung der UdSSR wurde ihr im Dezember 1991 die Auszeichnung "Volkskünstler der UdSSR" verliehen. 

Phillip Kirkorow, heute der
größte russische Musikmogul
Mit Öffnung der Grenzen wurde es ruhiger um Alla, ähnlich wie Liz Taylor bestach sie durch ihre vielen Ehen, die vierte gar mit Phillip Kirkorow, der Russland nur zwei Jahre vor ihr beim Song Contest vertreten hat. Er sang ein Wiegenlied für einen Vulkan, Alla schlug sich mit ihrem fast autobiographischen "Primadonna" bis auf die #15 vor, immerhin mit zwölf Punkten aus Slowenien. Inzwischen ist sie mit dem Moderator Maxim Galkin verheiratet und lebt in Moskau. Russland setzte nach ihrem Auftritt in Dublin zwei Jahre aus, 1998 war man nicht qualifiziert, 1999 musste man pausieren, weil man den Wettbewerb im Vorjahr nicht übertragen hatte.

Der erste Bodennebel beim
ESC: Alsou mit "Solo"
Zwischen Kirkorow und Pugatschowa mischte sich der Sänger Andreij Kurschinski, mit dem Titel "Ya eto ya", dieser erreichte allerdings in der Vorabqualifikation nur den 26. Platz und durfte, ähnlich wie Deutschland, Dänemark oder Israel nicht zur internationalen Konkurrenz nach Oslo fahren. Die Ergebnisse sollten sich erst ab dem Jahr 2000 verbessern. Mit Alsou gelang den Russen der zweite Platz, drei Jahre später ersangen die skandalumwitterten Pseudo-Lesben von t.A.T.u. den dritten Platz. Siegreich war zunächst aber nicht Russland, sondern Estland. Tanel Padar & Dave Benton von der Karibikinsel Aruba erzielten 2001 in Kopenhagen den ersten Sieg eines Landes der ehemaligen Sowjetunion.

Na wer schält sich denn da
aus dem weißen Klavier?
2002 in Tallinn (Terry Wogan fühlte sich wie in die Steinzeit versetzt, obwohl Estland in puncto Technik an vielen westeuropäischen Ländern vorbeigezogen war) siegte dann Marie N aus Lettland, der Song Contest blieb im Baltikum und schon 2005 sollte er in Kiew stattfinden. Die ehemaligen Sowjetstaaten holten in dieser Zeit mächtig auf, den langersehnten russischen Sieg fuhr dann 2008 Dima Bilan ein, der zwei Jahre zuvor schon den zweiten Platz machte. 2011 in Düsseldorf durfte Aserbaidschan mit seinen Petrodollars und dem Duo Ell & Nikki die Krone aufsetzen. Bisher sieglose Nationen aus der ehemaligen UdSSR sind Litauen, Moldawien, Weißrussland, sowie Georgien und Armenien. Ob Kasachstan in Zukunft anklopfen wird, hängt von den Statuten der EBU ab.

Auch wenn viele den Nationen der ehemaligen Sowjetunion verwerfen, sie würden nur ihren Nachbarn Punkte geben, ist dies immer noch einem großen kulturellen Austausch geschuldet. Diese Länder waren Jahrzehnte unter der Flagge mit Hammer und Sichel vereint, ähnlich wie Jugoslawien führten politische Differenzen dann irgendwann zum Auseinanderbröckeln dieser Nationen. Der gemeinsame Musikgeschmack blieb jedoch und auch wenn man sich jedes Jahr über den Punkteaustausch zwischen Belarus und seinem großen Bruder ärgern mag, er ist irgendwie nachvollziehbar. Politische Diskrepanzen führten in jüngster Zeit aber auch dazu, dass sich z.B. Georgien und Russland oder die Ukraine und Russland ignorieren. Dabei votieren die Zuschauer nach ihrem persönlichen Geschmack und stehen über den Interessen ihrer Politiker.

Sang auch Weihnachtslieder:
Ivan Rebroff auf Vinyl
Zu Zeiten des Kalten Kriegs waren osteuropäische Klänge aber auch in der deutschen Musikszene gefragt. So hat der in Berlin-Spandau geborene Hans Rolf Rippert alias Ivan Rebroff mit seiner Vier-Oktaven-Stimme diverse Auszeichnungen für seine Lieder erhalten, etwa der Intonierung des Klassikers "Kalinka" oder "Katjuscha". 1985 erhielt er für seine Völkerverständigung zwischen Ost und west sogar das Bundesverdienstkreuz. 2008 starb Rebroff im Alter von 76 Jahren. 

Wirf die Gläser an die Wand:
Dschinghis Khan (1979)
Und auch Ralph Siegel sprang in den 70er Jahren auf den Russland-Zug auf. Dafür formierte er die Gruppe Dschinghis Khan, bestehend aus Steve Bender, Wolfgang Heichel sowie der Niederländerin Henriette Strobel, dem Südafrikaner Louis Hendrik Potgieter und den beiden Ungarn Leslie Mandoki und Edina Pop. Mit ihnen fuhr Siegel 1979 zum Song Contest nach Jerusalem. "Dschinghis Khan" erreichte einen soliden vierten Platz, die Gruppe war auch in der Sowjetunion erfolgreich, spielte auf dem Roten Platz und sang dadurch inspiriert später Titel wie "Moskau". Und auch Komponist Frank Farian war bereits im Jahr zuvor auf die Geschichte eines Mannes aus Russland aufmerksam geworden.

Frank Farians größter Coup:
Boney M - "Rasputin"
"Rasputin" war der zweite Song auf der Platte "Nightflight to Venus" von Boney M. Die Discoformation gehörte damals zu den populärsten Band der deutschen Musikindustrie. Auch sie waren in der ehemaligen Sowjetunion erfolgreich. Anders hingegen lief die Karriere vieler osteuropäischer Topstars in Westeuropa, nur wenig drang über den Eisernen Vorhang hinaus auf die westlichen Musikmärkte und wenn, dann wurde es gecovert, etwa die Titel von Karat durch Peter Maffay. Eine hingegen siedelte über, Nina Hagen. Sie wurde durch den, vom ostdeutschen Plattenlabel ausgegebenen Titel "Du hast den Farbfilm vergessen" in der DDR bekannt, nach der Solidaritätsbekundung für den ausgebürgerten Wolf Biermann nutzte sie 1976 die Chance um in die BRD auszuwandern.

The Voice-Juror und ESC-
Dritter: Sergey Lazarev
Auch nach Öffnung der Grenzen und Musikmärkte gelang es nur wenigen osteuropäischen Künstlern in Westeuropa Fuß zu fassen. Der Eurovision Song Contest stellt für viele Interpreten somit die einzige Möglichkeit dar, außerhalb der Heimat auf sich aufmerksam zu machen. Dies gelang etwa Ruslana 2004 mit ihrem Sieg mit "Wild dances" oder 2007 der verrückten Discokugel Verka Serduchka. Auch der Superstar Sergey Lazarev, der in diesem Jahr Televotingsieger wurde und in den ehemaligen Sowjetstaaten zu den Leadern im Musikgeschäft gehört, fristet in Westeuropa eher ein Schattendasein. So ganz sind die musikalischen Grenzen also noch nicht verschwommen, aber es ist gut, dass die osteuropäischen Nationen nahezu alle beim Eurovision Song Contest vertreten sind.



Poll: Und wo kämen wir ohne Lichtschalter-Voting hin... in Runde fünf stehen wieder sechs Themen zur Auswahl, heute im Angebot habe ich die Quattro Stagioni, Oh Tannenbaum, Alpha & Omega, Einhundert, Shamrock und Bonsoir l’Europe. Viel Spaß beim Werten, zur Abstimmung geht es hier entlang.