Samstag, 24. Januar 2015

Kommentar: Die gelebte Ballade


Frankreich - Es war Mitte der 2000er als sich die Big Five, die damals noch Big Four waren, sehr zugeknöpft beim Eurovision Song Contest präsentierten. Vergangen waren die Zeiten, in denen sie aufgrund ihres Landessprachenbonus stets vordere Platzierungen erreichten, die Qualität der Beiträge sank über die Jahre immer weiter. 2005 erreichte die Bilanz der größten Geldgeber einen neuen Tiefpunkt. Das Endergebnis von Kiew las sich wie folgt:

21. - 028 - Spanien - Son De Sol - Brujeria
22. - 018 - Großbritannien - Javine - Touch my fire 
23. - 011 - Frankreich - Ortal - Chacun pense à soi 
24. - 004 - Deutschland - Gracia - Run and hide

Alle vier Titel hätten es damals wohl nicht ins Finale geschafft, wären sie nicht schon qualifiziert gewesen. Nach Krisengesprächen in allen Nationen und der Aufarbeitung der Vergangenheit hat man neue fähige Leute an die Spitze der Auswahlen gesetzt, Deutschland konnte den Song Contest inzwischen gewinnen, Großbritannien hatte zwischendurch mit Jade Ewen ein Sternchen, Spanien rangiert sich zumindest im Mittelfeld ein, nur in Frankreich scheint es an Dynamik zu fehlen.

Kritiker werfen Delegationsleiter Bruno Berberes Inkopentenz vor, die Auswahl erfolgte mit wenigen Ausnahmen stets intern. Dabei hat dieses Prinzip unter der vorherigen Leiterin hervorragend funktioniert. Experimente mit exotischen Klängen, die nicht der typisch französischen Ballade entsprachen, räumten Anfang der 90er ab. Joëlle Ursull erreichte mit Musik von ihrer Heimatinsel Guadeloupe ("White and black blues") den zweiten Platz, ebenso wie Amina mit ihrem arabisch angehauchten Titel. Kali, Zouk-Musiker aus Martinique erreichte den achten Platz.
 
Auch in den 90er Jahren wagte man Experimente, mit Korsisch 1993, Cabaret 1994 und Bretonisch 1996. Anfang der 2000er ging es mit traditionellen aber nicht angestaubten Balladen von Natasha St-Pier und Sandrine François in die Top Five, danach ging es abwärts. Die dritte Ballade in Folge von Louisa Baïleche zog nicht mehr, die junge Generation aus Castingshows blieb ebenfalls hinter den Erwartungen. Damals in Kopenhagen landete Frankreich neben Griechenland die Überraschung des Abends. Die Sängerin hingegen 
 
2007 durfte das Publikum in Frankreich entscheiden, sie wählten einen Spaßbeitrag von den Les Fatals Picards, mit aufgenähter Nackenkatze und rosa Kostümen reichte es nur zu Rang 22 in Helsinki, wenig besser schnitt Sébastien Tellier ab, der es wagte, seinen Beitrag überwiegend auf Englisch zu singen. Es brauchte 2009 erst Patricia Kaas und mit einer melancholischen Nummer wieder in die Top Ten einzusteigen.


Der offizielle WM-Song Frankreichs von Jessy Matador landete solide auf dem zwölften Platz. Der im Jahr darauf als Sieger vermutete Tenor Amaury Vassili rutschte jedoch auf die #15 ab, der Druck war dem Korsen wohl zu groß, die Stirn zu schwitzig und der Song zu triefend. In den letzten drei Jahren lag Frankreich immer jenseits von Platz 20, das Duo Twin Twin erzielte in Kopenhagen gerade einmal zwei magere Punkte. Nur einmal, im Jahr 1966 erreichte Frankreich mit Dominique Walther weniger Punkte.

Nun ist man in Frankreich einen radikalen Schritt gegangen und hat dem Provinzsender France 3 die Eurovision abgenommen, sie wird nunmehr vom Hauptsender France 2 übernommen, man geht intern neue Wege. France Télévisions gehört zu 100% dem Staat und wurde 1992 aus den Sendern Antenne 2 und FR3 (heute France 2 und 3) gegründet. France 2 ist heute neben dem Sender TF1 einer der Hauptkanäle in Frankreich und spricht vor allem auch ein jüngeres Publikum an. TF1 ist ebenfalls EBU-Mitglied, ging aus dem Senderverbund ORTF (Office de Radiodiffusion Télevision Française) hervor und ist mittlerweile privatisiert.


Der öffentlich-rechtliche Sender France 3 hingegen übernimmt die Funktionen, die hierzulande NDR, WDR, MDR und Co. erfüllen. Ergänzt wird das Programm von France Télévisions durch den Musiksender France 4 und Bildungs- und Diskussionssender France 5, sowie das Überseeprogramm France Ô (Outre Mer) und France Radio.

Musikalisch kehrt man jedoch trotz Wechsel zu einem prominenterem Sender zu dem zurück, was sich meist rentiert hat, nämlich der klassischen Ballade. Dafür nominiert man kein Castingsternchen oder einen Interpreten aus ehemaligen Kolonien, sondern die aus Italien stammende und seit ewigen Zeiten in Nizza tätige Sängerin Lisa Angell.

Wie überliefert ist, ist sie häufiger Gast in der Nostalgieshow "Les chansons d'abord", mit deren Hilfe letztes Jahr Twin Twin ausgewählt wurden. Komponist ihres Titels "N'oubliez pas" ("Vergesst nicht") ist Robert Goldman, der bereits für Céline Dion tätig war. Während der Titel online größtenteils niedergemacht wird, halte ich ihn zum ersten Mal seit Jahren wieder für typisch französisch und hörbar.
 
Ich erwarte nun keinen großen Erfolg aus dem Stand, schließlich fangen die Franzosen ja quasi wieder bei null an, aber ich räume dem Titel bei einer guten Bühneninszenierung, die schlichter ist als das Epilepsie-Kino vergangenes Jahr, mehr ein als eine rote Laterne. Man mag darüber streiten, ob der Musikstil bei der Eurovision noch zeitgemäß sei, auf jeden Fall gehört er aber zu der Art Musik, die den Wettbewerb über jahrelang geprägt hat und der Frankreich immerhin fünf Siege zu verdanken hat.
 
Frankreich ist musikalisch sehr facettenreich, geprägt vor allem von Musikeinflüssen aus seinen ehemaligen Überseebesitzungen, ob es nun in der Karibik, Zentral- oder Westafrika oder dem asiatisch-pazifischen Bereich ist. Da muss auch mal wieder Zeit und Platz für einen klassischen Chanson wie aus dem Lehrbuch sein. Ich drücke Frankreich die Daumen, bei dem bisherigen Angebot, ob es nun die "Warrior"-Titel aus Malta oder Georgien sind oder der nette Seichtpop aus Mazedonien, ich finde Frankreich zeigt wesentlich mehr Klasse.


Das Lied ist mittlerweile auch in der eurovisionstauglichen 3:00-Minuten-Version verfügbar und kann hier angehört werden.